6. Juni 2025
Pfingstfeuer und mittendrin die Mutter vom guten Rat
Liebe Schwestern und Brüder, liebe Freunde
Jemand hat mich in den letzten Tagen gefragt, wie wir denn das alles hier aushalten und wie
es uns denn geht, wenn wir eben halt nicht helfen können, wenn wir an unsere Grenzen stoßen. Da habe ich nur eine Antwort, die wir uns schon vor einigen Jahren gegeben und zum Leitspruch gemacht haben: „MENSCHSEIN KÖNNEN WIR IMMER!“
Ja, so manches Mal bleibt eben nur dies: Menschsein können! Nicht als eine Ausrede für
„Ausruhen“ oder Bequemlichkeit, nicht als Schlafmittel für schlaflose oder durchsorgte Nächte! Immer wieder hat uns in den letzten Wochen das Schicksal von einigen Kindern hier manchmal den Schlaf geraubt. Da kam eine Mutter mit ihrer 8-jährigen Tochter. Sie war leicht am Bauch verbrüht. Wir konnten sie gut versorgen. Aber beim Gehen sah ich ihre verfärbten Hände und fragte, ob sie denn gemalt habe. Die Mutter schüttelte den Kopf und sagte:
„Nein, das ist vom Tabak.“ Ich war sofort hellhörig und bohrte nach. Nun stellte sich heraus, dass die gesamte Familie auf den Tabakfeldern arbeitet. Sie kommen aus einer Gegend, wo die Leute ausschließlich vom Tabakanbau leben – seit Generationen ist das so. Wir wussten das schon. Aber dass Kinder auf den Feldern mithelfen, dass die Familien die geernteten Tabakblätter in den Häusern lagern und dort noch bündeln usw., dass wussten wir nicht. Die Kleine hat oft Kopfweh, Übelkeit. Hat sie schon die „Grüne Krankheit“? Es ist aufgezeichnet, dass Kids nach einem Tag Arbeit in Tabakfeldern eine Nikotinmenge intus haben, die dem Rauchen von bis zu 50 Zigaretten am Tag entspricht. Ich denke seitdem viel darüber nach, habe auch mit dem Priester dort gesprochen. Es ist schwer, den Leuten zu vermitteln, dass dies für die Kinder schädlich ist. Sie sagen, dass seit Generationen der Tabak angebaut wird, dass nichts anderes wächst und dass das besser ist, als zu verhungern. Und sie sind ahnungslos. Der Priester hat mir dann erzählt, dass er es wenigstens geschafft hat, dass keine hochgiftigen Pestizide mehr verwendet werden. Nun sind wir am Überlegen, ob für jene Familien, die den Tabak noch zum Trocknen im Haus haben, wenigstens Baucontainer gekauft werden könnten, um den Tabak dort zu lagern und zu trocknen. Der Tabak ist das Gold der Tabakbauern, denn sie leben davon. Lieber würden die Angehörigen der Familien draußen schlafen, als den Tabak nicht trocken zu lagern. Droge Nikotin – ahnungslos den Kindern angetan! Ja, und unversehens sind wir in diesen Monaten immer wieder beim Alkohol- und Drogenproblem gelandet, auch bei wachsender Abhängigkeit vom Smartphone schon bei kleinen Kindern unter 10 Jahren. Völlig überforderte Mütter, deren Männer massenweise als Emigranten nur noch im Urlaub da sind, überlassen ihre schon kleinen Kinder diesem Sucht- mittel. In unserem Kindergarten sind in diesem Jahr Dreijährige gekommen, die durch Smartphone-Nutzung nur noch ein paar Englischwörter reden, noch keinen Ansatz von Spielverhalten oder altersgemäßer Sozialkompetenz zeigen. Wir haben inzwischen völlig andere pädagogische Konzepte, um diesem einigermaßen gerecht zu werden. Aber auch da sind wir am Anfang. Und wieder: die Mütter, Omas und auch noch verbliebene Väter sind völlig ahnungslos, was hier schon in den kleinen Gehirnen ausgelöst wird. Bildung, Aufklärung. Wir sind am Anfang. Es ist keineswegs so, dass sie Ignoranten wären.
Alkoholabhängigkeit vor allem der Männer ist eklatant. Aber auch vor allem junge Mädchen
konsumieren. Die wirtschaftliche und soziale Lage wird zunehmend chaotischer und die Aussichtslosigkeit für viele Familien ebenso. Und da ist der Alkohol halt nahe, um den Stress für eine kurze Zeit zu vergessen – der Teufelskreis beginnt. Ich wurde in eine Nachbargemeinde von den Schwestern zum Guten Hirten gerufen, da dort das Suchtproblem unter den Jugendlichen und Kindern auffällig angestiegen ist. 12-Jährige rauchen ununterbrochen, 14- jährige sind an der Nadel. Krystal ist im Konsum gestiegen, Gras ist schon „out“. Von Abri weiß ich, dass während des Unterrichtes etliche Schüler halt „Snus“ konsumieren, weil sie
„ohne“ gar nicht mehr sein können. Das Thema der Abhängigkeit beschäftigt mich schon lange, seit ich jedoch so konfrontiert wurde, bin ich unruhig. Es ist hier noch völlig TABU. Nun war ich bei den Jugendlichen der Schwestern vom Guten Hirten. Thema: Abhängigkeit, Drogen! Die Schwester sagte mir so einen halben Tag vorher, dass sie den Jugendlichen, die immer zur Katechese kommen, nicht gesagt hat, dass es um Drogen geht, denn sonst würden sie nicht kommen. Ich habe geschluckt und gedacht, dass diese Stunde nun in die Hose gehen muss. Es war dem nicht so. Die Schwester meinte danach, so still wäre es noch nie gewesen. Da klopfe ich mir nicht auf die Schulter – ich bin eher erschüttert. Mit 2 Stunden ist nichts erreicht, nichts gelöst. Von den 12 Jugendlichen waren mindestens zwei, die tief in der Szene stecken. Und die anderen wissen davon. Alle wissen, wo man den Stoff besorgen kann. Wie man in die Sucht rutschen kann, das wusste keiner. Ich habe dann mit der Schwester noch lange gesprochen und Fragen an uns gestellt: Wo sind wir? Haben wir mehr als nur Moralpredigten? Haben wir mehr als nur Sätze wie: „Finger weg von dem Zeug? Das ist gefährlich oder sogar Sünde?“ Wissen wir, was diese Jugendlichen hier denken und welche Perspektiven sie haben? Interessiert es uns wirklich? Wo sind wir, wenn es ihnen schlecht geht? Die Familienstrukturen zerfallen: die Großfamilie gibt es nicht mehr, viele Angehörige sind im Ausland, die Jugendlichen haben zum großen Teil Väter, die gar nicht mehr im Land sind oder depressiv selbst im Alkohol hängen. Da entstehen soziale Hotspots, die uns die kommenden Jahre in Trab halten werden. Und ich frage mich, wenn ich das Pfingstfeuer angucke: „Haben wir nicht unseren Glauben auch eher als billiges Opium gedealt? Haben wir die Jugend versucht, mit Glaubensevents bei der Stange zu halten? Haben wir uns nicht mit Programmen und Angeboten wie die Dealer verhalten, die ein paar Glückshormone mit ihrem Drogen-Produkt versprechen?“ Dies ist eine kritische Anfrage an mich selbst am allermeisten? Oder brenne ich noch – wie das Pfingstfeuer? Brennen wir so, dass unser Zeugnis so authentisch ist, dass sie von selbst kommen und wie Mose vor dem Dornbusch die Schuhe ausziehen und erkennen dürfen, wie ein GOTT mit ihnen ist – gerade, wenn es ihnen
nicht so gut geht? Bringen wir sie durch unser Leben zur Sehnsucht nach dem, der das Leben ist und nicht nur kurzweiliges „Happy Life“ gibt? Dies fragt mich unser Pfingstfeuer im Garten, direkt neben einem großen Felsbrocken.
Gestern kam eine Jugendheimleiterin. Sie hat Jugendliche mit Drogenabhängigkeit. Sie ist
engagiert, aber weder sie noch ihre Mitarbeiterinnen haben die geringste Ahnung, welche Drogen im Heim im Umlauf sind, noch welche Wirkung diese haben können. Sie haben keine Ahnung, was Symptome von Abhängigkeit sind, keine Ahnung über erste Anzeichen des Konsums. Einzig der Horror bleibt bei den Erziehern: der Horror vor jenen, die in einem Horrortrip enden könnten, einige sind so aggressiv, wenn sie keine Droge haben, dass die Erzieherinnen ihnen Geld vom Lohn geben, damit sie den Stoff kaufen können. Und da erinnere ich mich an mein erstes Horrorbild hier vor Jahren, das ich nie vergessen werde: es gab einen Toten wegen Blutrache. Ich ging zur Sippe und im Korridor des Betonbaues kauerte ein Vierjähriger. Kol hieß er. Der Junge rauchte eine Zigarette und aus seiner Nase kam ein langer Wurm! Oft habe ich dieses Bild noch vor mir, besonders wenn ich verwahrloste Kinder sehe.
Und da ist dann der Omer, unser Zweijähriger, der sich mit heißer Milch verbrüht hat. Die
Mutter ist selbst noch ein Kind. Omer hat noch eine ältere Schwester. Irgendwie ist halt der Milchtopf über ihn gekippt. Wir haben ihn damals, vor drei Monaten erstversorgt, dann in die Brandklinik nach Tirana gebracht. Dort hat er knapp überlebt. Nun wurde er in katastrophalem Zustand zu uns zurückgeschickt. Und er ist von brutaler Behandlung schwer traumatisiert. Im Universitätsspital werden die Verbände einfach beim Wechsel ritschiratsichi heruntergerissen. Omer wurde in eine Badewanne gesetzt und bei 50 Prozent verbrannter Haut ohne Narkose gesäubert. Mehr kann ich Euch nicht mehr zumuten. Und auch ich selbst verbiete mir das Nachdenken darüber. Dass er mir hier versucht, in den Hals zu beißen, das verstehe ich. Und dann haben Mutter und Großmutter noch von dem Kleinen verlangt, dass er die „gute Schwester“ küsst. Meine Verweigerung haben sie nun hoffentlich verstanden.
Ich weiß nicht, ob wir ihn hinkriegen. Omer war ziemlich mollig, als er damals kam. Nun ist er Haut und Knochen. Aber schon beim zweiten Mal war er ruhiger. Er hat ein wenig mit mir über unser „Beisskrokodil“ kommuniziert. Und er hat eine Banane von mir genommen. Und nun muss ich in Bezug auf Omer ein Wunder der Mutter vom Guten Rat erzählen: Sie ist die Muttergottes von Shkoder, die der neue Papst in Italien besucht hat. Sie hat eine Geschichte der Auswanderung: Während der Zeit der Besetzung der Osmanen sind Shkodraner geflüchtet. Es wird beschrieben, dass das Bild der Muttergottes vom Guten Rat in die Emigration vorausging – hinüber nach Italien. In der Nähe von Rom in einer Kirche wird dieses Bild nun aufbewahrt. Und hier in Shkoder ist natürlich auch ihr Bild – jedes Haus hat die Muttergottes bei sich – wir auch. Viele Notfälle habe ich ihr schon anempfohlen und so auch Omer. Wo wir nicht mehr weiterwissen, da brauchen wir sie umso mehr. Und nun habe ich heute in einem Videocall eine Zusage zur Behandlung von Omer erhalten. Drei gute Männer werden uns helfen, dass Omer hier die richtigen Wundauflagen bekommt. Und wir tun unser Bestes, dass es der Kleine schafft. Das Übrige überlassen wir dem einen HEILENDEN!
Da sind viele, die schwer krank sind. Viele, viele. Da ist die alte Frau, deren Wange vom Krebs
zerfressen wird. Und das Geschwür hat bis in die Mundhöhle ein Loch gefressen. Die Frau hat der Tone (unsere Mitarbeiterin) die Hände geküsst, als wir wenigstens mit Schmerzmitteln lindern konnten. Seitdem schläft sie ein paar Stunden. Und da ist ein junger Kerl mit 17 Jahren. Auf einer Spritztour mit dem Freund knallten sie an einen Telefonmasten. Er wurde mit einem Schädeltrauma von Shkoder nach Tirana gebracht, dann aber wieder heimgeschickt, weil die Hirnblutung laut Arzt gleich wieder eingetrocknet ist. Als er nach fünf Tagen nur noch schlief und schwer zu erwecken war, riefen sie uns. In das Dorf brauchten wir so 40 Minuten. Die Ärzte sagten, es brauche halt Zeit. Wir fanden die Mutter und den Bruder völlig orientierungslos und in großer Angst um den Jugendlichen vor. Ich stellte fest, dass er Schwierigkeiten hat, die Augen zu öffnen bei Ansprache, dass er leicht verlangsamt spricht und irgendwie automatisierte Bewegungen vollzieht. Er äußerte sich über starke Kopf- schmerzen und verträgt weder Geräusche noch Tageslicht. Kopfdrehen tut ihm weh. Eine mit viel Energie veranlasste Resonanz ergab gar nicht. So blieb uns nichts, als zu erklären, was eine Contusio ist, eine Halsbandage brachte ihm sichtlich Linderung und der Arzt erlaubte dann auch Paracetamol. Wir erklärten der Mutter, warum sie den Puls kontrollieren muss und ihn auch nachts zwischendurch mal aufwecken soll. Sie war erleichtert. Und die Telefonnummer, um uns zu erreichen, war für sie die große Entlastung. Sie konnte dann weinen: endlich nicht mehr allein mit dem Elend sein. Sie haben für die Scanner und Resonanz viel Geld bezahlt, mussten für den Transport Schulden machen usw. Und sie hatte furchtbar Angst, dass ihr Sohn einfach nicht mehr aufwacht. Es geht ihm aber nun besser und wir hoffen, dass er sich erholt und genesen darf. So ist es Mai geworden und hier sind die Rosen schon am Verblühen. Ich glaube, wir haben mehr als tausend Rosen im Garten.
Unsere Mitarbeiter im Haus hatten Sehnsucht nach ihren Bergen. Eines Morgens kurz nach 6
Uhr sind wir rausgefahren – Richtung Berge. Nach einer kurzen meditativen Wanderung war dann auf einer großen Steinplatte mitten in der Wildnis von uns das Frühstück gerichtet. Es war einfach schön! Es gibt noch Fleckchen hier, die noch nicht von Touristen erobert und überlaufen und auch noch nicht vermüllt sind. Und die Diversität der Pflanzen ist enorm.
Heilpflanzen wie Arnika, Salbei, Pfefferminze, Kamille findet man dort – neben Rosmarin, Thymian, Knabenkraut, Frauenschuh, ja sogar wilde Freiseen. Es ist das Fleckchen Erde, das ich sehr liebe und das ich manchmal aufsuche, um allein mit Gott und der Welt zu sein. Und dort bin ich dann auch der Schlange begegnet. Es hat dort noch die schwarze Kreuzotter.
Albanien ist wild, Albanien ist arm, korrupt und oft unglaublich verkommen. Aber Albanien
ist schön und frei und ursprünglich und das Pfingstfeuer blüht und ist lebendig wie Albanien. Und so wünschen und erbitten wir das Feuer des Heiligen Geistes in uns, um uns und mit uns, für die Welt, die so geschunden ist, dass ihr Antlitz heiler werden darf.
Wir danken für all Euer Wohlwollen, Eure so treue Hilfe und Euer uns begleitendes Gebet.
Mit herzlichem Gruß
Sr. Christina und Sr. Michaela

06. Februar 2025
Dass Wunden heilen können
Liebe Schwestern und Brüder, liebe Freunde und Bekannte in der Heimat
Grüß Gott, Euch allen aus dem Klösterle in Dobrac. Der Frühling ist da, es wird Zeit, dass ich mich wieder mal melde. Wir berichten gerne und teilen mit Euch ein wenig Erfahrungen. Gleich zu Beginn danke ich für alles: für das Interesse an dem, was wir hier erleben, für die Solidarität, die Ihr den Armen und Elenden vermittelt, für jede Minute Zeit, für jede materielle und finanzielle Hilfe und natürlich für Euer Gebet und jeden guten Gedanken. Es ist ein Segen, dass wir mit Euch ein Netzwerk geworden sind – ein starkes Netz, das auffängt und nicht auseinanderbricht, wenn das Gewicht schwerer wird. Und ein Netz, das heilsam ist.
Bald schon wieder dürfen wir im Hymnus des Stundengebetes für die Fastenzeit in einem kleinen Satz lesen: „Die Erde zu heilen schuf Gott diese Tage“. Dieser Satz ist für mich über lange Zeit bis heute immer wieder die Quelle meiner Meditation, meiner Reflexion und auch meiner praktischen Arbeit geworden. „Die Erde zu heilen, schuf GOTT diese Tage – und in diesen Tag mich – uns alle!“ Da ist viel Raum, viel Bewegung, viel Kreativität, die uns das ermöglicht – besonders in Zeiten, wo das Unheil, das Unheil oft zu überwiegen scheint. Ja und da sind viele Wunden hier, viele Verwundete an Leib, Geist und Seele und alles ruft nach Heilung, nach Lebendigkeit und nach heilsamen Begegnungen. Und die gibt es! Wir könnten jeden Tag ein Buch schreiben, so gefüllt sind die Stunden, so intensiv die Minuten.
Intensiv war der 18. Geburtstag von Abraham am 19. Februar – gerade mal eine Woche her und schon wieder irgendwie so lange. Extra ist dafür seine große Freundin Mutter Andrea mit Sr. Josefa und Barbara angereist. Ja, die beiden verstehen sich auf ganz besondere Weise: Alt und Jung, zwei Sprachen, hellwach der eine, die andere im Alter fortgeschritten und die Orientierung nicht mehr so ganz, aber sie spielen Karten, sie zocken, sie gucken Fußball und unterhalten sich blendend. Der Jüngere kümmert sich, gibt Orientierung und sorgt sich um das Wohlbefinden in rührender Weise. Es war einfach schön. Und dann sind wir noch für zwei Stunden ans Meer – im Wissen, dass es vielleicht auch das letzte Mal ist mit Mutter Andrea. Ein Loslassen, das dazugehört – und heilsam ist. Und wir haben auch wieder losgelassen und unsere Besucher sind wieder daheim. Wir waren vorher schon am Meer. Ich hatte mit den Pflegeschülern für die häusliche Pflege ein Sterbebegleitungsseminar vorbereitet. Für 2 ½ Tage suchten wir einen ruhigen Ort, um dieses Thema gut und tief angehen zu können. Schwester Michaela hat im Klösterle die Stellung gehalten. Wir bekamen ein Hotel am Meer sozusagen fast geschenkt. Diese Tage waren gut und heilsam – einige der Pflegenden hatten traumatische Erfahrungen mit dem Tod über die sie nie vorher sprechen konnten. Der neue Bischof von Shkoder hat uns am zweiten Abend besucht, mit uns eine Hl. Messe gefeiert, gegessen und über das Projekt der häuslichen Pflege den ersten Eindruck gewonnen. Wir sind mit der Ausbildung fast am Ende, die Gruppe möchte jedoch weiterhin regelmäßige Treffen. Schwester Gjyste sagte: „Wir müssen noch viel mehr lernen, du kriegst uns nicht mehr los.“ Die Projekteilnehmer sind draußen bei den Langzeitkranken im Einsatz. Sie sind „da draußen“ mit ausschließlich schweren Schicksalen konfrontiert, die Kranken sind schwerste erkrankt, ohne sonstige Versorgung, die ärztliche Versorgung existiert oft gar nicht mehr. Schwerste an Krebs erkrankte Patienten werden einfach als „austherapiert“ heimgeschickt, Schlaganfallpatienten sowieso. Wenn noch Angehörige da sind, werden diese völlig allein gelassen, die wirtschaftliche Situation ist in den allermeisten Fällen katastrophal. So wurden wir zu einem Patienten gerufen, der ein Offizier war und im Dienst einen schweren Schlaganfall erlitten hat. Er liegt daheim, ist desorientiert, gelähmt und wegen Allergie der Inkontinenzeinlagen völlig wund. Seine Frau ist Lehrerin und muss vormittags in die Schule, sonst verliert sie ihren Job. Sie haben alles für die Behandlung ausgegeben – dann wurde er heimgeschickt. Zwischendurch wird er aggressiv, weil er die Situation nicht einordnen kann. Ich bin mit Tone dort und mache den Erstbesuch. Es ist zu weit, um jeden Tag dorthin zu kommen. Die Frau konnte dann eine Familienmutter aus dem Dorf für die Vormittagsaufsicht finden. Sie muss aber bezahlt werden und gibt ihm nur zum Trinken. Auf meinen Vorschlag, dass wir dieser Frau die Pflege, das Drehen, Positionieren usw. beibringen können, schüttelt die Frau den Kopf: „Nein, das geht nicht!“ Auch Tone, unsere Mitarbeiterin in der Pflege und eine aufgeschlossene, fast schon emanzipierte Frau, schüttelt den Kopf: „Geht nicht, Schwester Christina!“ Ich kapiere mit meinem „westlichen Denken“ immer noch nicht. Beide schweigen: „Geht nicht!“ Ich verwehre mir im Moment meine „Warum-Frage“, weil mich die beiden verständnislos angucken. Dann „dämmert“ mir was. Ich wiederhole und formuliere: „Es geht nicht, weil eine verheiratete Frau aus dem Dorf in keinem Fall einen verheirateten Mann anfassen kann.“ Sie nicken und meinen: „Na endlich!“ – und haben ein bisschen Mitleid mit mir, dass ich so etwas so lange nicht kapiere. „ES GEHT NICHT!“ Ich bin am dazu lernen und wir müssen Alternativen finden.
Denn bis dieses TABU gebrochen ist, sind wir nicht mehr auf dieser Welt. Dann frage ich noch, ob der Patient eine Rente bekommt oder sie Sozialhilfe. Die Frau sagt folgendes: Die Rente wurde beantragt, aber abgelehnt mit folgender Begründung: Da ihr Mann nicht bei der Kommission erscheinen konnte, musste sie eine Videoaufnahme von ihm im Bett machen. Während der Aufnahme hat ihr Mann das linke, nicht von der Halbseitenlähmung betroffene Bein ungezielt bewegt. Die Kommission hat sie dann der Lüge bezichtigt und sagt: „Er kann sich bewegen, er ist gar nicht gelähmt!“ Solche und ähnliche Antworten sind bei dieser Kommission keine Einzelfälle. Diese Patienten oder die Angehörigen fühlen sich dann nach einer solchen Ablehnung oft auch noch schuldig und die Entwürdigung ist dann oft schlimmer als die körperliche Problematik. Diesen Patienten ein wenig die Würde zurückzugeben, sie dabei zu stärken, für ihr Recht auf staatliche Unterstützung einzustehen, sich nicht schuldig zu fühlen, dies ist ein Teil unserer alltäglichen Arbeit geworden. Zwischendurch unterstützt sie auch einer unserer Mitarbeiter bei der Bürokratie etc. In einer so schwierigen Situation Unrecht, gekoppelt mit Ironie und Erniedrigung, zu erfahren, schlägt bei vielen Patienten tiefe seelische Wunden. Heilung braucht Zeit und auch das Recht gegen Unrecht. Nach wie vor fahren wir nach Korce. Melisa geht es etwas besser. Die Wunde im Bauchbereich ist geschlossen, die Beine brauchen noch Zeit, aber die Wundheilung geht voran. Und vor allem geht es ihr psychisch besser. Die Panikattacken sind weniger geworden und sie kann sozusagen den Rückfall ins Trauma gut abfangen. Wir haben ein paar Sätze oder „Einsagen“ geübt, damit sie sich vor dem Kontrollverlust in die Realität zurückholen kann. Das macht sie sehr gut. Nun hat sie zum ersten Mal die Wunde angeschaut – bislang hat sie dies absolut verweigert, die Augen fest geschlossen beim Verbinden. Als dann die Bauchwunde geschlossen war, nahm ich ihre Hand und führte einen Finger von ihr zur abgeheilten Wunde. Sie tastete, hielt aber die Augen geschlossen. Und nun hat sie ganz von selbst geguckt. Die innere Heilung ist wohl in Gang gesetzt, sie lehnt ihre großen Wunden nicht mehr grundsätzlich ab. Gestern nun sagte sie, dass sie sich ein Tattoo für ihren verbrannten Arm wünscht. Ich finde das eine gute Idee, nur muss es von einem guten Spezialisten gemacht werden. Sie sucht nun ein Motiv. Und dann hat sie mich nachträglich zu meinem Geburtstag überrascht. Sie stand mit einer Blume in der Zimmertüre, um mir zu gratulieren. Und sie hat sich schön gemacht: Lippenstift und Fingernägel lackiert! Fast jeden Tag schicke ich ihr eine Message mit einem Foto vom Garten oder einem Spruch. Das nimmt sie inzwischen auf und es belebt sie. Sie zeigt wieder Interesse am Umfeld. Langsam, ganz langsam kehrt sie zurück ins Leben. Das Pflänzchen ist noch zart, aber die Farben des Frühlings ja auch. Und wir achten darauf, dass wir mit der „Einforderung von Leben“ für sie nicht zu schnell sind und sie sich selbst nach ihrem Tempo aus dem Tunnel tasten und ihren so ganz neuen Lebensrhythmus auch finden kann. Sie lernt eben gerade, mit den schweren Wunden umzugehen, die Vernarbung hat noch gar nicht begonnen. Aber sie macht das gut.
Und da ist noch ihre kleine Schwester mit 14 Jahren. Jona ist ein tolles Mädchen. Sie schwänzt manchmal die Schule, wenn wir kommen und sagt: „Ich lerne viel mehr, wenn Ihr da seid“. Die Mutter toleriert es inzwischen, da Jona sehr gut in der Schule ist. Sie möchte viel wissen und bat nun um eine Bibel und um ein Kreuz. Sie lernt gerade das Beten, sagte die Mutter. Ich habe kaum so ein reifes 14- jähriges Mädchen erlebt. Und ist fröhlich und selbstbewusst und möchte im Sommer zu uns als Praktikantin kommen.
Hier ist die Grippewelle sehr massiv eingebrochen. Uns im Kloster erwischt es so nach-einander und am letzten Samstag fuhr deshalb Schwester Michaela mit Tone nach Korce zu Melisa. Ich konnte so die Grippe etwas kurieren. Um 10:30 Uhr klopfte jemand nervös am Klostertor. Eine Mitarbeiterin meldete ein verbranntes Kind. Der letzte Patient hatte eben die Ambulanz verlassen und so konnten wir gleich „freischalten“. Der kleine Zweijährige geht mir noch enorm nach. Er war schwerste mit kochender Milch verbrannt – mindestens 50 Prozent der gesamten Hautoberfläche. Die Haut hing in Fetzen herunter und sie hatten ihn in eine Wolldecke gewickelt. Eine Stunde sind sie gefahren. Ich rief Schwester Josefa, die noch zu Besuch war, um mir zu helfen. Wir versorgten den Kleinen Notfall massig, dann war die Ambulanz da, von Tirana. Wir gaben Verbandszeug und Flammazine mit, weil es dort nur Jodtinktur gibt. Der Kleine ging mir an die Nieren. Ich darf nicht dran denken, wie man ihn in der Schweiz oder Deutschland versorgt hätte. Aber er lebt noch und der Arzt aus der Klinik bat nochmal um Salbe, Kompressen und um Albumin.
Und wieder einmal mehr denke ich drüber nach, wie wir die Eltern, zum Schutz vor Brand-wunden ihrer Kinder, sensibilisieren können. Es gibt Unmengen von Brandunfällen, die zu vermeiden wären. Und weiter kursiert die Grippe, aber auch diese Welle wird vergehen, eine andere kommen. Trotzdem ist es Frühling geworden und Veilchen, Hyazinthen, Osterglocken und unser Zwetschgenbaum blühen. Wenn der Frühling die Erde für Ostern bereitet, dann schafft Gott diese Tage, um die Erde und ihre Geschöpfe zu heilen. So wünschen wir Euch für die Fastenzeit die heilende Nähe unseres Gottes und danken von Herzen für alle heilbringenden Zeichen, die Ihr uns so oft gebt.
Eure Schwestern Christina und Michaela

Die klösterliche Gemeinschaft ist seine Familie
7. Februar 2022
Armut
Liebe Schwestern und Brüder
Wenn der Januar bald an den Februar die Zeit weitergibt, möchte ich Euch allen erstmal noch ein gutes Jahr 2022 wünsche. Ja, gute Tage, erfüllte Tage, gelebte Tage. Wir haben seit dem Adventskalender wieder viel erlebt und ich möchte ein wenig mitteilen. Zuerst danke ich für all Eure Rückmeldungen und Euer Mitgehen mit uns. Eure Solidarität ist uns Ansporn und Rückenwind.
Wir alle hier waren ab dem Heiligabend immer abwechslungsweise mit Grippe im Bett. Letzte Woche hatte Abraham dann nochmal Covid, aber es verlief Gott sei Dank leicht. Er erkrankte zum zweiten Mal. Seine Psyche ist zum Glück stabil und er hat wieder hohe Resilienz gezeigt im Umgang mit Isolation und allem Drumherum um Covid. Nun wird er im Februar 15 Jahre alt und er ist recht selbständig – trotz Rolli. Jetzt ist es kalt geworden und die Armen betteln immer wieder Decken und Heizmaterial. Schwierig ist es bei Stromausfällen. Auch wir im Kloster ziehen uns dann an den offenen Kamin zurück zum Aufwärmen. Leider ist der etwas falsch gebaut und wir müssen immer Türe oder ein Fenster offenlassen, sonst räuchert es uns ein, denn der Rauch geht rein statt zum Kamin raus. Anfangs Januar haben uns Sr. Gratias mit Pater Andreas und Bruder Christian zu einem Exerzitientag in Fushe Arrez empfangen und alle Mitarbeiter des Kindergartens waren mit dabei. Es war ein guter Tag und wir wurden dort total verwöhnt. Immer wieder befasse ich mich mit dem Thema ARMUT. Ich suche immer wieder nach Beschreibungen, nach dem Erfassen der Bedeutung dessen, was wir immer wieder sagen: Armut, Arm sein, es ist ein Armer. Nun habe ich seit letzter Woche dieses Wort «ARM» in meinem Knochenmark – so habe ich das Gefühl. Ich habe bis anhin viel erlebt und auch viel gesehen – aber dieses toppt nun alles bisherige. Ein Erlebnis sitzt dazu in mir: und es ist ein Bild, das ich nicht mehr vergessen werde. «Eine alte Frau und Mutter ihres schwer verletzten Sohnes zeigt mir beim Erstbesuch eine Wasserflasche, in der ein ca. 7 cm langer Knochen ist. Sie guckt mich treuherzig an und sagt: Kannst du ihn wieder einsetzen? – und sie guckt auf das Bein ihres Sohnes.» Was ist passiert? Ich wurde von einer jungen Frau per E-Mail aus der Emigration angeschrieben. Sie schickt mir schlimme Bilder ihres verunfallten Bruders, mit der Bitte, ihm zu helfen. Auf den Bildern sehen wir zwei zermatschte Unterschenkel, die Knochen stehen frei raus. Die Oberschenkel sind offene Gewebewunden. Dann fahren wir hin. Der junge verunfallte Mann lebt in Durres und befindet sich nicht im Krankenhaus. Das wissen wir. Zwei Stunden Fahrt. Sr. Michaela fährt, Donata kommt auch mit. Wir packen alles ein, was wir für die Versorgung benötigen könnten. Vorher basteln wir zwei Stunden noch eine Beinschiene aus Pappe. Der Vater holt uns an der Straße ab. Das Wohnviertel sind halb fertige Häuser, teilweise noch im Rohbau. Das Haus, in dem diese Familie wohnt, ist zwar einigermaßen fertig gebaut, aber nicht isoliert und schwer zugänglich. In dieser Gegend stranden arme Leute aus den Dörfern ganz im Süden. Dann wartet die alte Mutter auf uns. Sie hat Tränen in den Augen und ist er-schüttert, weil jemand kommt. Dann führen sie uns ins Wohnzimmer, wo der Kranke liegt. Ich schlucke, mein Blick streift kurz Sr. Michaela. Ich sehe, dass Donata erstmal weiter hinten stehen bleibt. Sie weiß, was sie sich zumuten kann. Edison ist 33 Jahre alt. Er wurde im Juni 2021 von einem betrunkenen Polizisten angefahren, liegen gelassen. Dann das erste Krankenhaus, dann das Zweite. Dann hat sich die Sippe des Polizisten eingeschaltet, die in einer Privatklinik einen Platz reserviert hatte. Dort wurde dann Edison und seinen Eltern zugesagt, dass er in einer Woche ohne Amputation auf den Füssen sein werde. Die Familie des Unfallverursachers versprach auch, alles zu bezahlen, wenn vom Opfer ein Deklarat unterschrieben wird, dass man das Strafmaß wegen der großen Fürsorge der Sippe doch mindern möchte. Dies hat die Familie von Edison unterschrieben. Nach zwei fehlgegangenen Operationen hat sich die Sippe jedoch verabschiedet und die Eltern mit dem Sohn mit einem Haufen Schulden allein gelassen. Edison musste dann im September aus der Privatklinik, weil der Vater kein Geld mehr aufgetrieben hat. Er wurde einfach mit den zertrümmerten Beinen und mit den offenen Wunden an den Oberschenkeln nach Hause geschickt. Wir finden Edison in einem sehr miserablen Allgemeinzustand. Seine Augen sind tief in schwarzen Augenhöhlen. Er liegt bis zum Gesäß im Wundwasser und im Eiter und Blut. Die arme Mutter kommt nicht nach mit Wechseln und jede Bewegung bedeutet für den jungen Mann eine Tortour ohnegleichen. Er hat einmal am Tag 10 Tropfen Tramadol gegen die Schmerzen verordnet bekommen – am Abend zum Schlafen. Es klingt immer noch wie Hohn in meinen Ohren, als er dies erzählt. Die Wunden an den Oberschenkel sind durch die Hautentnahme entstanden und nie abgeheilt. Sie sind inzwischen stark infiziert. Die Unterschenkel sind zertrümmert, das Transplantat ist schief gegangen. «Leider Krankenhaus-Keime» sagte die Klinik. Die Füße wurden nie richtig gelagert. Uns glotzen zwei Spitzfüße an, die irreversibel deformiert sind. Ein Krankenpfleger kommt zwischendurch und reißt ihm dann die Verbände runter, dass er schreit, wie Edison selber sagt. Der Pfleger verlangt für seine Arbeit von 8 bis 10 Stunden im Monat einen gesamten Monatslohn. Der Vater sagt kläglich, dass er nun nicht mehr bezahlen konnte. Mir läuft es kalt den Rücken runter. Auch im Zimmer ist es kalt. Der kleine Heizer kommt nicht gegen die kalten unisolierten Außenwände an. Eine Ecke im Zimmer ist bereits schwarz vor Schimmel. Ein Eisengestell steht am Fenster. Der Vater erklärt, dass sie dieses Gestell über das Bett von Edison stellen, wenn er seine Notdurft verrichten muss. Dann hieven die Eltern ihn mit dem Oberkörper hoch, er hängt dort wie am Reck und verrichtet dann die Notdurft. Sr. Michaela schluckt jetzt und guckt mich an. In diesem Moment kommt die Mutter und zeigt mir die Flasche mit dem Knochen. Dieses Stück vom Schienbein ist drei Tage vor unserem Besuch bei dem Hebemanöver aus dem Knochen auf den Boden gefallen. Die verzweifelte Mutter hat ihn aufgehoben und hofft, dass ihr Sohn eines Tages wieder laufen kann – mit dem von ihr geretteten Knochenstück. Ich hoffe, dies war nicht zu viel für Euch. Wir möchten niemanden zu viel zumuten. Wir sind dabei, für Edison wenigstens das Überleben zu sichern. Es ist klar, dass amputiert werden muss. Wir suchen eine Klinik, die ihn übernimmt. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ist hier nicht üblich. Es ist auch nicht üblich, einen Patienten zu übernehmen, der in einer anderen Klinik war und nun so aussieht. Wir haben aber ein Wunder erlebt: eine Unfallklinik in Bayern hat uns unkompliziert und unbürokratisch beraten. Dies tut gut – mehr als wir sagen können. Und ein Paket zur Wundversorgung ist von dort zu uns unterwegs. Arm!! Hier sieht man keine Hungerbäuche. Das wäre einfacher – vielleicht! Diese Armut ist anders: Mehr und anders als Hunger und kein Geld und Schulden: tiefer- in alle Lebensbereiche hinein. Die Wasserflasche mit dem Knochen drin, die die Mutter mir gibt zum anflicken. Sie symbolisiert es für mich. Und ich frage mich auch, ob der Verlust des ethisch moralischen Bewusstseins von all jenen, die an diesem Schicksal verdienen, die die Schwächsten ausbeuten und so elend liegen lassen, nicht letztlich die größere Armut ist. Edison hat sich eines erhalten: er konnte weinen, er konnte umarmen, er hat sein Herz behalten. An Rache denkt er nicht. Und wie in der Luft schon dezent der Frühling riecht, so hoffen wir, dass Edison seine Lebensgeister zurückbekommen kann. Wir tun alles, was uns nur möglich ist. Gott möge uns die Kreativität geben, die wir dazu brauchen.
Wir wünschen Euch allen eine gute gesegnete Zeit
Eure Sr. Christina

8. Oktober 2021
Hoffnung findet Wege
Liebe Schwestern und Brüder in der Heimat,
wenn gerade die Herbstsonne ihre schon längeren Schatten wirft, dann wird es mir bewusst, dass ein Vierteljahr seit dem letzten Rundbrief vergangen ist. Gerne melde ich mich wieder. Wahrscheinlich könnte ich über die letzten Monate ein dickes Buch schreiben. Es würde den Titel wie oben haben: «Hoffnung findet Wege oder sucht Wege!» Ich möchte Euch nicht verschweigen, dass wir drei schwere Monate hatten. Seit Dienstag,
also vier Tage nun, atmen wir auf. Unsere treue, selbstlose Irena war anfangs Juli am falschen Platz und am falschen Ort. Sie wurde von uns im Dienst dorthin geschickt. Und sie wurde verhaftet – und hat nun drei Monate im Untersuchungsgefängnis verbringen müssen. Die Zeit dazwischen ist schwer in Kürze zu beschreiben: «Sorge um Irena, Wut, Hilflosigkeit, Suchen nach Lösungen, Hoffnung auf sofortige Freilassung, Begraben dieser Hoffnung und wieder neue Hoffnung bis zum nächsten Verhandlungstermin, nicht zuletzt auch die Auseinandersetzung mit meinem Schuldgefühl, dass sie für mich da «einsitzt». Für mich war schwierig, einfach keinen Zugang zu ihr zu bekommen, ich konnte nur einige Male ganz kurz mit ihr telefonieren. Besuchserlaubnis erhielt ich nicht. Da die Post nicht so funktioniert und geschlossene Brief nur per Post ausgehändigt werden, habe ich das «Tagebuch von Anne Frank» in albanischer Sprache gekauft und in Anne’s Eintragungen einige Gedanken von mir für Irena handschriftlich zugefügt. Irena sagte nun, dass sie dies alles miteinander (mit Zimmergenossinnen) gelesen haben. Niemals hätte ich gedacht, dass ich jemals in so einer Situation sein würde. Die Mitarbeiterinnen hier hat es stark mitgenommen, aber diese Zeit hat uns alle auch noch mehr zusammengeschweisst. Ein Geschenk in dieser Zeit hat mir der Himmel gemacht: ich konnte mich irgendwie zu GOTT durchwühlen und das innere Wissen bekommen, dass, trotz allem, GOTT da ist und «nichts, aber auch gar nichts, uns alle von SEINER Liebe trennen kann – auch die grösste Ungerechtigkeit nicht. Aber ich gebe zu, ich wühlte mich da durch, wie so ein Maulwurf, der seinen Gang durch die dunkle Erde buddeln muss. Und ab und zu bin ich mit meiner Maulwurfnase schwer angestossen. In diesen Zeiten war ich umso dankbarer für Sr. Michaela, ihre Sicht, ihre Gefühle, ihr Dasein. Wir sind froh, dass wir uns gegenseitig haben. Dies ist uns in diesen drei Monaten wieder auf ganz andere Weise gezeigt worden. Wir durften diese Herausforderung bestehen, wenn wir auch Blessuren haben, die noch Zeit brauchen. Und Irena ist nun daheim, wenigstens raus aus dem Untersuchungsgefängnis. Es geht ihr gut; sie braucht aber Zeit. Was wir jetzt schon wissen: Sie war in ihrer Zelle die Mutter und die Freundin und die Trösterin der anderen. Das erste, was sie sagte, als sie uns am Mittwoch dann begegnete: «Ich möchte bitte Kerzen anzünden für jene, die ich dort zurückgelassen habe; ich habe ihnen das versprochen und auch mein Gebet!» Das ist Irena. Sie sagte uns dann noch, dass sie jeden Abend in ihrem Loch ein Gebet zu Gott geschrieben hat. Wir haben dann ein wenig miteinander geweint. Nun haben wir sie wieder und irgendwie kommt es mir noch ganz unreal vor, als wäre ihre Präsenz nicht wirklich, eher ein Hauch von ihr, der schnell wie entgleitet. Und das Leben hier ist weitergegangen, die Tage sind nach dem Urlaub im August den längeren Abenden entgegengeflogen. Und sie waren und sind gefüllt von viel Not und steigender Armut und gleichzeitig von der Hoffnung der
Menschen, bei uns ankern zu können. Leider ist die Coronasituation hier sehr prekär geworden. Eben kam Sr. Michaela und erzählte, dass ein jüngerer Polizist, den wir auch kennen, daran gestorben ist. Gleichzeitig traf sie unseren Trinkwasserlieferer, der dann mitteilte, dass seine Mutter an Covid nun verstorben sei. Wir lieferten noch ein Krankenbett von uns, bevor sie ins Spital überwiesen wurde und dann dort gestorben ist. Es sind jeden Tag neue Familien aus unserem Wohngebiet, die das Virus haben und denen es teilweise sehr schlecht geht. Wir bringen Lebensmittel, Hygieneartikel, Desinfektion und kaufen die notwendigen Medikamente. Die Angst geht nun um; die meisten sind nicht oder noch nicht vollständig geimpft. Wir hoffen und beten und tun, was wir können. Die ökonomische Situation hat sich die letzten zwei Wochen enorm verschlechtert, da die Preise für Grundnahrungsmittel wie Mehl, Reis, Speiseöl enorm gestiegen sind. Gemüse und Obst ist nicht mehr erschwinglich. Gemüseskandale wie z.B. mit längst verbotenen Pestiziden verseuchte und nun aus dem Verkehr genommenen Tomaten, machen das Ganze zur vollen Misere. Dazu kommt noch eine angekündigte Preissteigerung für Wasser, Strom und Gas. Die meisten Menschen hier wissen nicht mehr, wie sie diesen Winter überstehen sollen. Sie denken nur noch an eines: nichts wie raus aus diesem Land. Dazwischen sind dann noch wir wie so ein flackernder Leuchtturm im Sturm. Ja, sie kommen nun in Haufen, in Scharen, in Verzweiflung und mit Hoffnung. Schwester Michaela hat schon begonnen, die noch nicht verteuerten Makkaroni aufzukaufen, damit wir diese verteilen können. Dank sei Gott können wir unsere Kinder im Kindergarten jeden Tag mit gutem, vitaminhaltigem Essen versorgen. Täglich werden wir zu Kranken in den Häusern gerufen. Die verfaulen in den Betten und sind allein gelassen. Wir müssen eine Art häusliche Krankenpflege aufbauen. Wir können das selbst nicht mehr stemmen, da die Menschen aus allen Himmelsrichtungen zu uns kommen. Die ersten Gespräche sind geführt, da die weiteren Anfragen diesbezüglich auch von zwei Priestern aus umliegenden Gemeinden gekommen sind. Es ist gut, wenn das Blickfeld soweit ist, dass die Notlage erkannt ist und die Pflegbedürftigen langsam aus der Tabuzone in das
Lebensumfeld rücken. Wo der Leidensdruck nicht die Depression, sondern gutes Hinterfragen und Aktivwerden fördert, da besteht Hoffnung auf anhaltende Kreativität zur Änderung. So stehen nun in diesem Monat die ersten Gespräche zur Realisierung der Hilfeleistung bevor. Ich bin schon gespannt und auch voller Tatendrang. Die Alten und Schwerkranken liegen uns sehr am Herzen, manchmal auch ein paar Nächte lang im Magen.
Da muss ich eine Erfahrung erzählen, die mich seitdem auch nicht mehr losgelassen hat. Es ist jetzt keine so ästhetische Begebenheit: Ich wurde von einer jungen Schwester aus einem anderen Orden gebeten, mit ihr eine Schwerkranke zu besuchen, weil sie mit dieser Frau nicht weiterwisse, wie sie sagte. Sie sagte mir am Telefon nur, dass es einfach schrecklich wäre dort und ich bald kommen sollte. Ich vereinbarte mit ihr am selben Nachmittag einen Besuch. Was ich dann erlebte, war eine der heftigsten Krankenbesuche, die ich bislang gemacht habe: eine etwas übergewichtige alte Frau lag auf einem gestickten, verdreckten
Sofakissen auf der Seite auf einem alten Bettgestell. Die stark angeschwollenen und aufgeplatzten Beine lagen schräg ausserhalb des Bettes auf einem Holzstuhl. Das Wundwasser tropfte runter. Als ich sie mit ihrem Namen ansprach, drehte sie sich langsam zu mir um und ich blickte in ein Blut verschmiertes Gesicht, das heisst, Blutkrusten verklebten ihr Gesicht. Das ganze Bett war voll mit Blut verschmierten Lumpen, überall war
altes verschimmeltes Essen und es roch nach Urin und Blut und Fäulnis. Ich kam vor lauter Unrat nicht durch, um das Fenster zu öffnen. Die Tochter, die da war, sagte mir, dass sie selbst schwer depressiv sei und sie sich nicht um die Mutter kümmern könne. Seit zwei Tagen hatte die Frau schwere Blutungen aus Mund und Nase. Das Blut liess sie sich nicht wegwischen. Einen Arzt sowie die Einweisung ins Krankenhaus verweigerte sie aus Angst, dass sie dort von Corona angesteckt werden könnte. Ich vermutete allerdings bei ihr selbst Corona. Sie hatte schwerste Atemnot und auch Fieber. Sie verweigerte mir auch, sie zu waschen usw. Wir konnten mit ihr vereinbaren, dass die Vinzentinerin mit einer Frau zuerst mal das Zimmer ein wenig in Ordnung bringen wird. Ich versprach ihr, eines unserer Pflegebetten für sie zu organisieren. Es war in diesem Zimmer jedoch keinerlei Platz für dieses. Ich entdeckte eine zweite Tür am Gang und fragte, ob dieses Zimmer denn für das Bett Platz
habe. Da erreichte mich ein schriller Schrei aus dem Krankenzimmer. Die kranke Frau verbot mir mit aller Kraft, dass ich in dieses Zimmer trete. Der schrille Schrei dieser mit Blut verschmierten, völlig atemlosen und entkräfteten Frau sitzt mir noch heute in den Gliedern. Ich ging zu ihr zurück und fragte vorsichtig, was es denn mit diesem Zimmer auf sich habe. Da sagte sie folgendes – mit sichtlicher Angst: «In diesem Zimmer lebt die Seele meines Mannes; er ist dort gestorben!» Ich konnte mich nicht setzen, da alles so verschmuddelt war.
Aber jetzt rang ich irgendwie auch nach Atem oder ich brauchte eine Atempause, um gut reagieren zu können.
Ich fragte sie dann ein wenig nach ihrem wohl vor Jahren verstorbenen Mann und ging langsam das Thema nach der Öffnung des Zimmers an. Ich sagte ihr auch, dass ich sicher sei, dass ihr Mann seinen Frieden gefunden habe und seine Seele nun frei sei. Sie willigte ein, dass ich die Tür öffne und reinschauen kann. Aber sie erklärte mir nochmals mit aller Kraft, dass sie niemals in dieses Zimmer gehen werde. Nun, ein Schritt der Annäherung an das Seelengespenst des verstorbenen Mannes war damit getan. Sie hatte die Tür auch zu ihrer
verbarrikadierten Seelen-Angst einen kleinen Spalt geöffnet. Was ich dann sah und vor allem roch, das war dann schon eher wieder gespenstisch: Das Totenbett war noch so, wie vor Jahren, aber alles vergärt, verschimmelt. Der Gestank wurde von einem Eimer voller verfaulten Zwiebeln dann noch gesteigert. Ich lief raus auf den grauen, tristen Gang des Blockhauses und lehnte mich über das Treppengeländer. Dieser Besuch schreit mir die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer organisierten ambulanten Betreuung der Kranken und
Alten förmlich ins Gesicht. Und da kommt in diese Not der Menschen dann einfach Hoffnung: da machen sich Leute wie die «Bullis», trotz Corona, auf den Weg und bringen Hilfsgüter. Sie laden nicht nur ab – sie
interessieren sich für die Menschen und uns. Da kommen Pakete, da kommen Praktikanten, um uns ganz praktisch zu helfen, da wird für uns gebetet, da wird organisiert und gefragt, wie es uns denn geht. Und da haben Geschäftsleute aus meiner Heimatstadt ihre Kleider, die wegen Corona nicht verkauft werden konnten, nicht einfach entsorgt. Diese neuen Kleider haben wir nun bekommen. Diese Solidarität ist Hoffnung. Es wäre einfacher gewesen, diese Kleider zu entsorgen. Viel Einsatz von ganz vielen Leuten hat es gebraucht, diesen Transport zu ermöglichen. Wir sind unglaublich dankbar und gerade am Verteilen. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie glücklich die Menschen hier sind, einmal ein neues Kleidungsstück anziehen zu dürfen. Eine junge Frau hat mir geschrieben, dass sie die ganze Nacht nicht geschlafen hat, weil sie die Hose und den Pullover nicht mehr ausgezogen hat. Und die kommende kalte Jahreszeit mit weniger Strom und Licht und Wärme wird leichter, weil eine warme neue Jacke wärmt. Wir können Euch allen nur danken für jegliche Form
Eurer Unter-stützung, sei diese materiell oder menschlich und spirituell. DANKE.
Gott segne Euch alle
Sr. Christina und Sr. Michaela

13. Oktober 2020
Begegnung
Liebe Schwestern und Brüder, liebe Freunde in der Heimat,
grüss Gott aus dem Klösterle. Wir hoffen, Ihr seid wohlauf und dürft Euch auch ein wenig an den Herbstfarben freuen.
Ich bin wahrscheinlich den letzten Morgen in diesem Jahr draussen an der Muttergottes-grotte gehockt, um die Laudes zu beten und ein wenig zu meditieren. Ein paar Weinberg-schnecken kreuzen meine Gedanken, buchstäblich. Sie eilen nicht und ich denke, ob sie manchmal über meine Hektik ihr Haus schütteln vor Lachen. Die Luft ist schwül heute Morgen und in der Nacht hat die Erde wieder gezittert. Seit etlichen Tagen gibt es Erdbeben bis zu 4,6 auf der Richter – Skala in der Gegend, wo letztes Jahr das grosse Erdbeben war. Ich segne die Erde und das Wetter an diesem Morgen. Es ist Sonntag. Ich lasse die letzten zwei Wochen nochmal vorbeifliegen. Über mir ächzt der angerissene Ast unserer Trauerweide. Auch hier ist es nach sehr heissen Wochen kühler geworden und der Regen ist gekommen. Gott sei Dank. Wir hatten die letzten vierzehn Tage immer wieder starke Unwetter, aber alles ging noch relativ glimpflich ab. Unsere Garage hat es in einer Nacht überschwemmt, die Küche im Kinderzentrum auch. Es hat den Bauern Früchte von den Bäumen geschlagen und teilweise auch die Obsternten vernichtet. Wir sind dankbar, dass die Unwetter keine Leben gekostet haben. Mit Corona ist die Lage hier noch chaotischer geworden. Unsere Ambulanz ist auch «überschwemmt». Patienten, die dringend ins Krankenhaus gehören, kommen hierher. Sie haben Panik vor dem Krankenhaus wegen einer Ansteckung mit dem Corona-Virus. Und dann hält sich hier sehr zäh die Fake News, dass Kranke mit Corona in den Krankenhäusern eine Todesspritze bekommen. Das Vertrauen in das medizinische System war eh schon angegriffen; jetzt ist es sozusagen unter null. Da kommt ein Vater mit seinem Jungen. Er hat eine schwere Milzvergrösserung und ganz hohe Leukozytenzahl und hohes Fieber. Er hat mit seinem Sohn das Krankenhaus, genau wegen dieser Angst, auf eigene Verantwortung verlassen und meinte nun, wir machen den Jungen hier mit irgendeinem Wundermittel gesund. Solche Situationen häufen sich. Und die Ambulanz ist eine Art Sozialzentrum geworden. Viele, viele schicksalshafte Lebensgeschichten werden da neben den körperlichen Gebrechen ausgepackt. Da ist eine Frau, die sich verbrannt hat und jeden Tag daheim Gewalt erlebt. Sie ist leider kein Einzelfall. Die Frauen hier können nicht in ein Zentrum gehen und Hilfe holen. Es in der eigenen Familie publik zu machen oder zu den Eltern zurückzukehren, ist fast unmöglich, da die Tradition des Kanun hier sehr strikt ist: Die Frau gehört ab der Hochzeit der Sippe des Mannes. Immer wieder gelingt es jedoch auch, dass eine Frau ihre Opferrolle erkennt und aus dieser Rolle sozusagen aussteigt. Wir haben ja dafür teilweise auch wochenlang Zeit, denn Brandwunden heilen ja nicht an einem Tag. Und auch Männer «packen» aus in der Ambulanz. Vor zwei Tagen war da Xhupi, ein Mann wie ein Schrank so körperlich stabil. Seine Verbrennung war nicht so schlimm, aber seine Haut am Fuss war trocken und rissig. Ich cremte dann den Fuss noch ein und da fing er an zu weinen. Und er sagte: «Schwester, ich habe schmutzige Füsse. Du cremst sie einfach.» Er weinte weiter und erzählte: «Meine Tochter hatte ein gutes Geschäft mit dem Schwieger-sohn. Alles war in Ordnung. Dann kam Corona. Sie verloren alles durch den Lockdown. Sie sind noch nach Deutschland abgehauen. Irgendwo sind sie mit den zwei Enkelkindern in einem Lager. Ich bin allein. Meine Frau ist tot. Ich möchte nicht mehr leben. Und Du cremst mir nun die Füsse. Was mache ich denn jetzt?» Wir redeten lange. Es ging ihm besser, als er gestern wiederkam.
Ein Vater bringt seine verbrannte kleine Tochter. Wir wissen, dass dieser Mann sein Geld nicht auf legale Weise verdient. Nach dem Verbinden macht er seinen fetten Geldbeutel auf und da strotzen die 5000 Lek-Scheine. Er möchte bezahlen. Ich sage ruhig: «Nein, du kannst dieses Geld ein paar armen Bettlern auf der Strasse geben. Wir nehmen kein Geld, bete für uns!» Da ist er durcheinander. Ich sage ihm: «Mit Geld kann man nicht alles machen, weisst Du? Unser Dienst ist hier kostenlos, aber wir bitten um Dein Gebet. Hast Du das Vaterunser vergessen? Als kleiner Junge hast Du es gebetet!» Ich gucke ihn an; er nickt. Und ich sage: «Du wirst dich erinnern, das weiss ich. Bete dann für uns, für Dich und Deine Tochter.» Wieder nickt er und steckt seine Geldscheine in die Tasche. Ich gebe ihm den Segen. Er guckt mich völlig erstaunt an.
Unsere Patienten sind auch erfinderisch in Bezug auf Distanzmassnahmen nicht einhalten. Es fällt den meisten sehr schwer, ein wenig Distanz zu halten und keine Dankküsse zu verteilen. Nun, die Gesichtsmaske lässt das ja nicht so zu. Da kommen dann inzwischen einige der Patientinnen auf die Idee, mir einfach die Schulter zu küssen. Und so manches mal ist dann der Lippenstiftkuss am Habitärmel oder halt als «Abzeichen» auf der Schulterpartie der Kleidung.
Ich möchte noch von unseren Kids im Kinderzentrum erzählen. Wir haben festgestellt, dass die Kids in der Coronakrise oft die stillen Leidenden sind. Die Erwachsenen finden leichter ihren Weg. Sie können drüber reden, drüber diskutieren, über Massnahmen auch schimpfen usw. Und die Kinder sind verstummt; ihre Ängste können sie nicht artikulieren. Das Phantom, das Corona heisst, schwirrt ihnen dann in der Phantasie herum, aber bekommt keine konkreten Formen. Die Aggressivität nimmt zu. Eine Erzieherin erzählte mir, dass ihr ein paar Kinder rigoros die Maske vom Gesicht reissen und diese dann zerstören. Wir haben ein Programm entwickelt, wie wir mit den Kids in dieser Zeit
umgehen können, dass sie das Corona-Trauma einigermassen gut überstehen. Zum Programm gehört auch ein Puppen-theater. Leider sind auch die Coronazahlen hier steigend und ab Donnerstag ist Masken-pflicht überall, draussen und drinnen. Für Nicht-Einhalten gibt es Strafen. Diese Geldbussen sollen mit den Stromrechnungen verschickt werden.
Unser Müllabfuhrmann Franzi hatte mit seiner gesamten Familie Corona. Es ging ihnen schlecht und es war schwierig, ihnen die Einsicht zu vermitteln, dass sie nun in Quarantäne gehen müssen. Die Oma der Familie war schwer krank. Sie wurde aber daheim versorgt. Für eine Infusion anhängen, musste die Familie sehr lange eine Krankenschwester suchen, die das dann für viel Geld machte. An Coronakranken, die daheim sind, wird sehr viel Geld verdient. Denn die Gefahr, angesteckt zu werden, erhöht hier den Preis für das Anstecken einer Infusion oder das Geben einer Spritze um ein Vielfaches. Wir brachten dann der Familie Lebensmittel, Hygieneartikel und alles, was sie brauchten. Und Franz meinte dann, so gut habe er im Leben noch nie gegessen.
Nun, dann ist da eben Sonntag. Um 13.30 sagt mir Sr. Michaela, dass drüben, 200 Meter weit von uns, am Verkehrskreisel bei den 5 Helden eben ein Polizeichef aus der angrenzen-den Region im Auto angeschossen wurde. Sein Vater wurde auch schwer verletzt. Die Attentäter sind mit dem Motorradl gekommen und verschwunden. Der Polizist schwebt in Lebensgefahr. Am Abend sagt uns ein Freund, dass immer noch die Scherben vom Auto- fenster auf der Strasse liegen. Ich bin wieder mal betroffen. Diese Strasse ist die Hauptachse von Nord-Süd in Albanien und die Unglücksstelle ist nicht gesäubert nach einem halben Tag! Ich rufe diesbezüglich noch einen Polizisten an, aber der lacht mich fast aus. Nach kurzer Rücksprache mit Sr. Michaela entscheide ich, an den Kreisel zu fahren und die Scherben aufzukehren. Der Gedanke, dass da Menschen angeschossen wurden, jetzt um das Leben kämpfen und jeder über die Scherben fährt, das ist für mich völlig inakzeptabel. So nehme ich Besen und Schrubber, Kehrschaufel und einen Eimer und fahre los. Ida kommt mit, um ein wenig aufzupassen, dass ich nicht von einem Fahrer zusammengeschrubbt werde, denn dort ist viel Verkehr. Und es ist kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Am Strassenrand sind ein paar Flüchtlinge, die die Balkanroute für die Flucht benutzen und machen Pause. Ich grüsse sie, parke das Auto mit Warnblinklicht und steige aus. Viele feine Glasscherben sind auf der Strasse. Ich denke daran, dass ich 20 Minuten vor dem Attentat dort vorbeifuhr, um Abrahams Freund zu holen. Viele Autos kommen, aber sieverlangsamen. Ich beginne, die Scherben zusammen zu kehren und in den Eimer zu leeren. Ein junger Autofahrer stoppt kurz und ruft aus dem Fenster: «DANKE Moter, Gott segne Dich!» Und dann dauert es keine Minute, da stehen vor mir zwei der Flüchtlinge. Einer der Jungs umarmt mich, sagt: «Oh Mama!» und nimmt mir den Besen aus der Hand und kehrt zusammen. Der andere kippt die Scherben in den Eimer. Dann umringen mich alle Vier und wollen eine kurze Umarmung und jeder kehrt ein wenig. Ich stehe einfach nur da, meine Gesichtsmaske ist mir längst aus dem Gesicht gerutscht. Die Autos fahren vorbei und stoppen zeitweise kurz. Ich habe in diesen paar kurzen Minuten kein Zeitgefühl, erlebe nur unglaubliche Intensität der menschlichen Begegnung zwischen bis dahin sich völlig fremden Menschen. Dann sind die Glassplitter alle im Eimer. Ich gebe dem ersten Flüchtling die Hand und lege einfach meine Hand auf seine Stirn, um leise zu segnen. Da kommt der nächste Junge, zeigt zum Himmel und beugt seinen Kopf und so machen es alle. Die muslimischen Brüder von der Strasse möchten den Segen – Glaubensgrenzen fallen hier. Und sie verstehen weder Englisch noch albanisch noch deutsch. Sie kommen alle aus Afrika; dies konnten sie vermitteln. Aber auch die Sprachgrenzen sind hier nicht relevant, diese Sprache mitten auf der Strasse in all dem ist eine andere. Ein paar von ihnen haben Tränen in den Augen und sagen nochmal «Mama». Dann gehen sie weiter, den Weg Richtung See. Wir wissen inzwischen, dass Schlepper für die Route über den See sehr viel Geld verlangen.
Diese Begegnung werde ich nie vergessen; sie hat sich jetzt schon eingegraben. Und aus den Glassplittern werde ich einen Mosaikengel machen. Das, was dort an Unheil am Mittag an diesem Sonntag geschehen ist, kann man nicht rückgängig machen. Aber auch das, was dann am Abend geschah, bleibt in einer ganz kleinen Geschichte wie als Gegenstück präsent, auch wenn es noch so unschein-bar für die grosse Welt ist.
Und auch Ihr, die Ihr uns mit so viel Kreativität in diesen Krisenzeiten helft und unterstützt, tragt viel dazu bei, dass Gutes geschehen darf und kann und wir da sein können für die Menschen hier. Dafür sagen wir DANKE und Vergelt`s Gott.
Mit den besten Segenswünschen Sr. Christina und Sr. Michaela

30. April 2020
Rundbrief von Schwester Christina aus Albanien
Nebenschauplätze – oder doch zentral?
Liebe Schwestern und Brüder in der Heimat, liebe Freunde überall
Es ist Sonntag nach Ostern, der Sonntag der Barmherzigkeit, wie er heißen darf. Und ich denke, wie viele Facetten die Barmherzigkeit Gottes wohl hat in diesen Tagen? Und ich denke, wie viel Kreativität dieser Gott uns gibt, damit wir, ja wir, in dieser Krise das Erbarmen erfahren und weitergeben. Und ich frage mich, ob es mir das Herz und den Magen und das Gehirn umdreht und mobil macht, wenn ich an die Betroffenen der Krise denke und sie vor allem vor mir habe? Aber zuerst: wir hoffen, dass es Euch «drüben» einigermaßen gut geht, dass Ihr nicht erkrankt seid und mit Euren Lieben irgendwie den Kontakt halten könnt. Wir hoffen, dass Ihr die «Maßnahmen» unbeschadet überstehen dürft und ohne totalen «Koller» durchgehen könnt. Dafür bitten wir auch. Und wir beten, dass Gott der Allmächtige uns beherrschen darf, dass ER SEINE Gnade ausgießen darf über uns und nicht das Virus alles beherrscht, alle Gedanken, alle Handlungen und Regungen. Wir hoffen und beten, dass der Geist Gottes, der Geist des Lebens in unseren jetzt sehr geschlossenen Lebensräumen den Atem des Lebens und der Heiligkeit und der Achtung vor jeglichem Leben neu ausgießen darf. Und so wird das Virus und die Folgen nicht das letzte Wort haben. Und wir hier? Ich möchte ein wenig aus der letzten Woche berichten. Wir hatten ja wirklich alle am Beginn vom Februar eine schwere Grippe. Viele Mitarbeiterinnen waren, ebenso wie Abraham, zusätzlich von einer schweren, doppelseitigen Lungenentzündung betroffen. Diese Phase ist vorbei. Aber Shkoder hat nun etliche registrierte Corona-Patienten. Unser Wohn-gebiet in Kiras und Dobrac ist sozusagen ein «Coronanest» geworden. Wir halten Hygieneregeln ein; die hielten wir aber sowieso schon vorher, da wir immer auch infektiöse Patienten in der Ambulanz haben.
Uns beschäftigen hier mehr die «Nebenwirkungen» der Schutzmaßnahmen und der Isolation, der Schließung aller Institutionen und Geschäfte, der Fabriken usw. Seit Freitagnachmittag herrscht nun bis Montag früh absolute Ausgangssperre. Aber seit gestern gibt es Ausnahmen. Gestern durfte ich als Pensionistin (ab 60 Jahre) bis 11 Uhr mittags raus zum Luft schnappen. Heute dürfen nun Mütter mit Kids bis zu 10 Jahren auch so lange raus. So ein bisschen wie im Zoo. Schwester Michaela kam gestern an und meinte etwas ironisch: «Heute bist Du dran, aber alleine. Morgen kann ich ja dann mit dem Toni raus auf die Promenade.» Wir haben zum Luftschnappen unseren Garten und genießen jedes Blümle, das neu blüht. Sr. Michaela und ich haben eine Sondergenehmigung für Sozial- und Krankendienste. Das sieht dann so aus: Wir befinden uns auf den Nebenschauplätzen: Jeden Morgen (außer jetzt eben am Wochenende) fährt Sr. Michaela los mit ihrer Sondergenehmigung. Sie passiert Polizei- und Militärkontrollen inzwischen relativ unbehelligt. Sie kauft Unmengen von noch vorhandenen Lebensmitteln ein. Diese werden dann bei uns zu Carepaketen verpackt und dann wieder von Sr. Michaela an jene verteilt, die nicht aus den Häusern können. Die anderen Armen, die jetzt noch ärmer sind, stehen dann am Vormittag vor unserem Tor. Manche haben eine Gesichtsmaske, die meisten nicht. Wer Hunger hat, interessiert sich nicht für Schutz und kann vor allem keine Maske kaufen. Er braucht was zum Essen für die Kids. Zum Schutz davor, dass nicht etliche Familienmitglieder einzeln kommen, um mehr Pakete zu erhalten, müssen wir inzwischen die Identitätskarten verlangen. Oft kommt Sr. Michaela heim und erzählt, dass die Familien schon nichts mehr zum Essen hatten, bis von uns Nachschub kam. Und sie erzählen auch, dass die eingeschlossenen Kids jetzt viel mehr Hunger haben. Und auch unsere Kindergartenkinder haben keine Mittagsmahlzeit mehr, die sie im Kindergarten bekommen. Wie viele inzwischen ihre Arbeit in Fabriken, als Tagelöhner, in Kleinstgeschäften etc. verloren haben, das wissen wir nicht. Es sind bestimmt viele. Neben Lebensmitteln gehört zum Carepaket inzwischen auch Seife zum Händewaschen. Wir hoffen, dass das Wasser einigermaßen reicht, aber nicht alle haben Zugang. Dann ist da ein neues Phänomen, mit dem wir in der Krise wohl auch rechnen müssen: Panikreaktionen der Patienten. Es wurde eine junge, relativ schwer verbrannte Frau angemeldet. Sie kam mit ihrem Mann und musste einige Augenblicke im Korridor warten. Die junge Frau war «schwer» ausgerüstet: professioneller Mundschutz, Handschuhe und nochmal ein Tuch rum. Dann marschierte Ndua, ein älterer Patient, aus der Ambulanz und die junge Frau rastete aus. Sie weigerte sich, in die Ambulanz zu gehen und sich dort das todbringende Virus zu holen, wie sie sagte. Sie ging voll auf Angriff über und ich blieb mal in sicherem Abstand stehen. Sr. Michaela versuchte, sie zu beruhigen. Aber da wurde es ihrem Mann zu viel und er wollte sie mit Gewalt in die Ambulanz zerren. Er war nahe daran, sie einfach zu verhauen. Das konnte verhindert werden. Wir erklärten dann, dass wir sie nicht zwingen werden zur Behandlung. Und wir gaben ihr das Verbandmaterial und die Salbe mit, in der Hoffnung, dass sie heilen darf. Solche Panikreaktionen müssen wir einfach im Blickfeld haben in solchen Zeiten. Das war unsere Passage zum Lernen. Und solange keine(r) bewaffnet vor uns steht, ist alles in Ordnung. Dann ruft mich Sr. Rita an. Sie gehört einem ganz kleinen Konvent aus Italien an und ihre Schwestern und sie haben auch nichts mehr zum Essen, geschweige denn zum Verteilen an die Armen. Und sie bittet um einen Krankenbesuch bei einer noch recht jungen Frau, die mit Hirnblutung und Dekubitus unversorgt ist, da die Krankenschwester nicht mehr kommt aus Angst vor Corona. Diese Situationen haben wir jetzt sehr gehäuft. Ich packe alles ein, was mir so einfällt, um die Frau zu versorgen. Die 16-jährige Tochter der Patientin erwartet uns. Ricarda kümmert sich rührend um die Mama, aber sie hat Angst, weil sie eben jetzt alleine ist. Sose, die Mama, liegt sehr teilnahmslos im Bett. Damit sie ruhig bleibt, hat die Kranken-schwester für die Zeit ihrer Abwesenheit einfach Haloperidol dagelassen. Das hat dann die Katastrophe bei Sose ausgelöst. Und sie ist seit drei Wochen wund gelegen. Das Trinken hat nicht mehr geklappt und so ist sie auch noch ausgetrocknet. Ich weiß, wenn wir es nicht schaffen, dass sie trinkt, wird sie an Austrocknung sterben, ihr Organsystem versagen. Ich arbeite mich zu Sose vor, indem ich mich zu ihr ins Bett setze und sie an mich ziehe. Sie ist nur noch Haut und Knochen. Meine Schutzmaske hängt irgendwo an einem Ohr und ich muss komisch ausgeschaut haben. Jedenfalls hat Sose dann irgendwann nach viel Zuspruch und Wangenstreichen reagiert und die Augen aufgemacht. Die Tochter fing zu weinen an, weil sie meinte, die Mama sei schon tot. Ich sagte Sose, dass jetzt noch nicht die Zeit zum Sterben sei, erzählte ihr, dass ihre Tochter sie noch brauche und dass schließlich Ostern sei und sie noch nicht ins Grab könne jetzt. Als ich meine Bettpredigt beendet hatte, schlug sie nochmal die Augen auf und sagte glatt und trocken: «AMEN!» Nun fielen beinahe Sr. Rita und die Tochter in Ohnmacht. Dann gings weiter. Ich sagte: «Ein Glas Wasser bitte.» Ich sah einige Momente vorher, dass Sose wohl ihren Speichel geschluckt hatte, ein Zeichen, dass sie noch schlucken kann. Ricarda bekam Angst und sagte, ihre Mutter würde ersticken. Ich erklärte der Tochter ruhig, was ihr vorhatte und sie stimmte zu. Dann führte ich das Glas an den Mund und die Patienten schluckte und schluckte und trank das ganze Glas aus. Sie hatte Durst. Und dann lächelte sie. So erklärte ich dann Ricarda, wie sie ihre Mama versorgen könne und auch sie lächelte. Als ich dann Sr. Rita nach Hause fuhr, war da noch ein weiterer «Notfall», wie sie sagte. Vor ihrem Kloster kreuzte mit dem Radl ein älterer, magerer Mann auf. Sr. Rita erklärte mir, dass Gjon vor einigen Tagen aus dem Sanatorium entlassen wurde. Dort brauchen sie die Plätze wegen Corona und er mit seiner offenen Tuberkulose wurde mit einem Rezept heimgeschickt. Da stand er nun vor uns und hustete seine Tuberkel raus. Mundschutz, Handschuhe? Natürlich nichts dergleichen! Gjon hatte weder Geld seine Medikamente gegen die Tuberkulose zu kaufen noch eine Monete für Lebensmittel. Ich erklärte ihm, dass er unbedingt einen Mundschutz tragen müsse und zog ein paar unserer selbstgenähten aus der Tasche. Sr. Rita hat ihm dann noch Lebensmittel und etwas Früchte gekauft. Er hat offene Tuberkulose und wird bald das Blut husten, wenn er nicht Hilfe bekommt. Die Medikamente werden wir aus der Apotheke besorgen. Ich stellte mir dann vor, wie gerade die unsichtbaren Tuberkel von Gjon sich mit den Coronaviren treffen…und musste lachen. Und die gute Sr. Rita, meine Philosophenfreundin, fiel aus allen Wolken, als ich ihr erklärte, dass Tuberkelbazillen auch ansteckend sind und Gjon vermutlich an Tuberkulose sterben wird, wenn er weiter so abmagert und sein feuchter Wohnwagen ein Tuberkel-nest bleiben wird. Ob Corona für diesen Mann eine Rolle spielt, wollte dann die Schwester wissen. So häufen sich die Einzelfälle, die dem «Nebeneffekt» der Maßnahmen zum Opfer fallen. Da ist noch Katharina, die voller Krebsmetastasen ist. Keiner kommt mehr, das Krankenhaus hat verweigert, ihr das massive Bauchwasser ab zu punktieren – wegen Corona Gefahr. Keine Chance. Ich fahre zu ihr, bringe ein paar Erdbeeren, die sie noch essen kann. Sie spricht von ihrer Tochter, die in Italien festhängt. Letzte Gespräche – wir beide wissen es. Sie ist tief gläubig, ich bringe ihr die Hl. Kommunion. Und Schmerzmittel, denn die Tumorschmerzen sind unerträglich geworden. Aber sie erträgt alles. Sie wartet auf ihre Tochter. Und das Bauchwasser – nicht Corona – drückt ihr den Atem ab. Und dann ist da die nächste Krebskranke ohne Schmerzmittel. Die anderen kommen nicht mehr. So ist unser Gebiet nun um einiges erweitert. Wir denken nicht an den nächsten Tag, was wir heute tun können, tun wir, das Morgen hat seine eigene Sorge, steht schon irgendwie so geschrieben. Da sind dann auch noch unsere zwei Jungs. Der Antonio ist einfach ein Sonnyboy, aber auch er nimmt die Corona-Atmosphäre auf seine Weise wahr. So schlägt er vermehrt nach meiner Brille oder er macht einfach total Quatsch, wenn er essen soll. Abraham hatte einen Aus-raster, weil einfach an Ostern ein Ritual ausgefallen war. Er hat nur noch geheult und geheult, dann konnte er gut artikulieren, was ihn so beschäftigt: «Nicht das ausgefallene erste Eis an Ostern, nicht dass es unbedingt das Schoki-Osterei nicht gab, sondern einfach, dass das Gewohnte nicht mehr ist. Und keine Freunde, keine richtige Schule, alle nur mit Corona… und immer wieder nur Corona. Uns ist, durch unsere Kids, jeden Tag sehr klar, wie sehr es den Familien jetzt an den «Nerv» gehen kann, wenn zu allen Sorgen um Arbeits-plätze, um die Ernährung, die Angst vor der Erkrankung auch noch rebellierende, streitende und provozierende Kids und Jugendliche daheim eingesperrt sind. Das ist die Heraus-forderung, der wir uns auch als Klosterschwestern stellen und mit allen Familien hautnah teilen. Auch wir haben Nerven und es ist uns bewusst, dass wir uns hier in dieser Corona-Sondersituation ganz bewusst in der Hand haben müssen. Und wenn da ein provokanter Schmetterer kommt von einem Jungen, der ganz genau weiß, dass er zur Risikogruppe gehört, dann ist es umso nötiger, das «dahinter» auch mitzuhören. Geduld brauchen wir alle ein paar Kilo mehr. Und so können wir auch noch lachen, können miteinander die Zeit nutzen, eine Mühle spielen, in den Garten gehen und Sr. Michaela ist jeden Tag der Torwart und Abri knallt seine Bälle aus dem Rollstuhl, manchmal ein wenig aggressiver als sonst, ins Tor.
Ich möchte es nicht versäumen, Euch allen, die Ihr uns in diesen Zeiten mit Eurem Wohl-wollen, Eurer Solidarität,
Euren Spenden und Euren Gebeten begleitet, unser ganz tiefes DANKE zu sagen. Vergelt`s Gott.
Möge der Allmächtige Euch gesund bleiben lassen und uns alle in diesen Zeiten vor allem bewahren, was uns schaden mag.
Mit herzlichem Segengruß
Eure Sr. Christina mit allen hier im Klösterle
10. März 2020
Rundbrief von Schwester Christina aus Albanien zur allgemeinen, aber auch zu besonderen Situation rund um das Thema “Coronavirus (COVID-19)”
Wenn der Frühling durchbricht
Liebe Schwestern und Brüder, liebe Freunde
Vielleicht bin ich zu mutig, wenn ich den Frühling erwähne. Draußen im Garten blühen viele Osterglocken, die Veilchen, Gänseblümchen, Primeln, Hyazinthen. Dieses Jahr alles mit-einander. Die letzte Woche habe ich zu den Knospen fast sagen wollen: Bleibt noch ge-schlossen, es kommt schlimmes Wetter! Sie haben meinem Rat getrotzt und sich Sturm und Regen und sogar einmal dem Hagel ausgesetzt. Der Pflaumenbaum ist weiß wie Schnee von Blüten und die Bienen haben ihn gestern in zwei Sonnenstunden besucht. Es ist, als wüsste die Natur nichts von «Corona», der (die, das??) die Welt in Atem hält. Im Hymnus des Morgengebetes lese ich jetzt beim Sonnenaufgang: «Die Erde zu heilen, schuf Gott diese Tage.» Jeden Tag bekommen wir besorgte Anfragen aus der Heimat, wie es uns denn mit dem „K-Vi“ gehe, ob wir noch gesund seien, alles haben. Für diese Für-sorge danken wir sehr. Wie es uns damit geht? Ich sage manchmal für mich «Korönchen» zum neuen Weltbeherrscher. Ob er weiblich oder männlich ist, weiß ich nicht, lieber ein ES vielleicht?? Uns geht es gut. Laut den nicht mal 100 Tests, die hier gemacht wurden, hat Corona an den Grenzen Albaniens bislang Halt gemacht. Eine Grippe mit Halsweh, hohem Fieber, Glieder-schmerzen, trockenem Husten, Lungenentzündungen haben wir hier alle bereits mehr oder weniger überstanden. Abri hatte es am schwersten erwischt. Wir hatten und haben viele Patienten, die alle diese schwere Grippe haben. Ein paar Krankenhäuser fragten uns um Schutzmasken an; zum Schluss haben wir, aus Einmalwaschlappen mit tollem Material, Schutzmasken selbst genäht. Die stehen uns nun zur Verfügung. Die Fachleute hier haben folgende Gründe bekannt gegeben, weshalb Albanien (noch) „K-Vi“-frei ist: die starke Immunität der Menschen, da sie täglich mit Unmengen von Viren und Bakterien zu tun haben und/oder das Klima. Ob Korona es lieber warm oder kühl oder nass oder trocken mag, das ist offengeblieben. Uns beschäftigt mehr die Frage, warum die ganze Welt paralysiert ist und sich von einem kleinen Virus so in Angst und Schrecken ver-setzen lässt. Vielleicht haben wir es hier leichter. Wir haben eigentlich keine Zeit für Panik und Angst. Jeder Tag hat so viel an Lebensbedrohlichem, an Überlebenskampf, dass wir gelernt haben, im Bewusstsein zu leben, dass wir immer nur in die Hände Gottes fallen – egal was passiert und ist. Diese «Erdung» und gleichzeitig Vernetzung zum Allmächtigen lässt uns soweit gelassen bleiben. Und wenn dann offiziell Corona auftaucht, dann können wir hier eh nix machen, außer eben uns im Chaos durchwurschteln, wie wir es eh gewöhnt sind. Und wie dann die Versorgungslage sein wird, das wird sich zeigen. Die Menschen sind gewöhnt, dass sie nur Käse und Milch von der Kuh haben. Desinfektionsmittel haben sie nie gehabt, selbst Seife ist seit eh und je Luxusartikel für die Bevölkerung hier aus den Bergen. Und die Leute sagen uns, dass sie vor Corona keine Angst haben; sie haben schon mehr überstanden. Und so erzähle ich nun von der neu entstandenen Frauengruppe hier im Kloster. Lule und ihre Freundin waren dafür ausschlaggebend. Die Freundin, eine junge Mutter von drei Kindern, wurde von Lule schwer verbrannt in die Ambulanz gebracht. Beim Verbrennen von Müll ist etwas explodiert und die Stichflamme hat ihr Gesicht und beide Hände verbrannt. Als ich ihr Ruhe verordnete, weinte sie lautlos. Wieder mal spielte sich dasselbe Drama ab: Mütter können hier nicht einfach so mal krank sein und ausruhen. Es wird auch vom Umfeld nicht toleriert. Es stellte sich – wie schon so oft – heraus, dass diese Mutter völlig überfordert ist. Wenigstens schlägt sie ihr Mann nicht, aber der ist jeden Tag in der Stadt, um sich am Straßenrand als Tagelöhner zu verdingen. Manchmal hat er Glück, öfters kommt er völlig frustriert nach Hause. Hausarbeit jedoch lehnt er als Ehrbeleidigung ab. Wir kommen ins Gespräch. Lule kennen wir schon 14 Jahre. Damals wurde ihr Bruder wegen Blutrache er-schossen. Er war verheiratet und hatte drei kleine Mädchen, die Kleinste war 2 Monate alt. Die junge Mutter war damals gerade mal 21 Jahre alt und völlig mit der Situation über-fordert. Lule hat sich seitdem der Erziehung der drei Mädchen gewidmet; sie ist Lehrerin. Nun, wir reden und reden; die Verletzte hört auf zu zittern und lässt mal alles raus. Und am Ende der medizinischen Versorgung steht dann der erste Frauentreff im Kloster. Lule möchte alle ihre Freundinnen aus dem Wohngebiet drüben mitbringen. Letzte Woche war es dann soweit. Ich zweifelte glatt, dass sie kommen. Aber sie kamen. Erstmal vier Frauen zum Gucken, wie das so wird. Wir hatten den Tisch im Saal schön gedeckt und Kaffee und Kekse vorbereitet. Die Frauen sollten mal eine Stunde frei atmen können. Und das taten sie dann auch. Und sie fingen an, ihre Geschichten zu erzählen. Diese Geschichten wären es wert, in Bücher geschrieben zu sein. Es sind Geschichten von Frauen, die unglaubliches durchgemacht haben. Sie haben durch Blutrache, Verlust der Kinder, Gewalt, Hunger, Rechtlosigkeit und viel, viel Arbeit eine ungewöhnliche seelische Stärke entwickelt, keineswegs Härte. Was hat sie gehalten? Der Glaube, wie sie sagen, ein gewisser Humor der albanischen Berge, wo sie herkommen, sich nicht beugen vor Selbstmitleid. Ich erlebe in ihnen volle seelische Gesundheit, aber auch Ehrlichkeit, ehrliche Klage, ärgerliches Schimpfen, ehrliches Lachen, ein beherztes sich Einsetzen, und den gewissen Trotz der albanischen Frau: sie trotzen allem, weil sie letztlich für das Leben verantwortlich sind. Und sie lassen raus, dass sie in dunkelsten Stunden den Rosenkranz gebetet haben. Eine Bibel haben sie nie gelesen, über ihre Gottesbeziehung reflektieren sie nicht unbedingt, aber sie glauben, dass Gott ihr Leben in der Hand hält und ihnen das Leben aufgegeben hat. Das reicht ihnen. Und so gehen sie auch mit der Bedrohung durch Corona um. Dieses, die Welt beherrschende Virus, be-droht sie gar nicht. Sie staunen, als ich sie danach frage. Und sie lachen, als ich wissen möchte, ob sie davor denn keine Angst haben. «Nein, Schwester. Wir haben schon viel Schlimmes überstanden, zwei von uns hatten Cholera. Wir werden den auch schaffen und wenn nicht, dann ist es halt Zeit zum Sterben!» Ja, das sagen sie so. Ich denke, wo der Tod täglich wirklich so nah ist wie hier, da kann man so mit dem Leben umgehen. Und diese Frauen sind glücklich in diesen Stunden hier. Und Corona beherrscht diese zwei Stunden keineswegs. Ich lerne wieder mal intensiv von unseren Frauen und habe Hochachtung. Nach zwei Stunden gehen sie und Lule möchte in zwei Wochen weitere Frauen mitbringen. Mri sagt schmunzelnd: «Weißt Du, wir wollten erst mal gucken, wie das so ist hier. Jetzt kommen wir aber alle.» Ein kleiner Frühling im Lebenssommer! Mehr als Corona beschäftigt uns täglich die Situation der Alten und Pflegebedürftigen in den Häusern. Seit Wochen und Monaten kommen Angehörige von bettlägerigen Patienten mit Fotos von diesen. Wir sehen verfaulende Menschen. Sie sind unversorgt mit schweren Dekubiti. Wir können das nicht mehr beschreiben. Die Patienten sind wund gelegen bis auf die Knochen: Gesäß, Schultern, Fersen, Beckenknochen, alles, alles. Teilweise kommen sie so aus den Krankenhäusern zurück. Die Familien sind nicht vorbereitet, haben keine Pflege-mittel, keine Ahnung usw. Eine Frau und Mutter von zwei noch kleinen Söhnen haben drei alte Familienangehörige zu versorgen. Nun kam sie zu uns und bat um Hilfe. Was ich dann draußen sah, ist eigentlich unbeschreiblich: im ersten Stock liegt ihre Mutter. Sie hatte einen Beckenbruch, war einige Tage im Krankenhaus und kam völlig aufgelegen zurück. Das Bett ist eine Holzpritsche, die alte Frau hatte keine Schmerzmittel und die Wunden waren nicht verbunden. Sie stanken fürchterlich und die pflegende Familienmutter wusste nicht mehr weiter. Sie hatte ein paar Röcke zerrissen und rumgewickelt. In einem anderen Zimmer im Erdgeschoss liegen die Schwiegereltern. Die Schwiegermutter ist dement und macht Dinge, die gefährlich sind. Der Schwiegervater liegt auch auf einer Holzpritsche und ist seit fünf Jahren gelähmt. Ambulante Versorgung gibt es nicht. Wir haben nun wenigstens das Notwendigste eingeleitet und die Frau ist etwas entlastet. Finanziell ist diese Familie aber schon lange am Ende. Dies ist kein Einzelfall; jeden Tag kommen verzweifelte Bitten um Hausbesuche zu uns. Derweil sind wir in Planung für einen Kurs für pflegende Angehörige. Die schwere Grippewelle hat uns da aber eingebremst. Wir sind besorgt über diesen äußersten Pflegenotstand. Und Krankenschwestern, junge Arbeiter sowie Fachkräfte werden massiv vom Westen abgeworben. Das Land hier blutet aus, die Alten bleiben allein zurück. Ein soziales Netz dafür gibt es bislang nicht. Wir suchen nun nach gangbaren Möglichkeiten, denn wir können unsere Augen vor diesem bereits begonnenen Notstand nicht verschließen. Wir brauchen flächendeckende ambulante Versorgungsstrukturen. So fangen wir mal in der Frauenrunde damit an. Ich denke, diese Frauen sind fähig, sich um andere zu kümmern. Ganz einfach, ganz basal, kostet nix oder wenig. Es braucht nicht so viel. Dies ist jedenfalls mal unser nächster Schritt. So gehen wir durch die Fastenzeit und trauen der Führung des Allmächtigen und richten unseren Blick weniger auf «Korona», sondern in diesen Tagen auf den Herrn mit der Dornenkrone, der uns und die Schöpfung durch sein Leiden erlöst hat. Und wir hoffen und wünschen Euch allen den freien Blick durch diese Krisen- und Fastentage auf Ostern hin. Und wir danken für alle Gebete und alle Unterstützung und erbitten Euch den Segen Gottes.
Eure Sr. Christina mit Sr. Michaela