Rundbriefe von Sr. Christina und Sr. Michaela aus Albanien

7. Februar 2022

Armut

Liebe Schwestern und Brüder

Wenn der Januar bald an den Februar die Zeit weitergibt, möchte ich Euch allen erstmal noch ein gutes Jahr 2022 wünsche. Ja, gute Tage, erfüllte Tage, gelebte Tage. Wir haben seit dem Adventskalender wieder viel erlebt und ich möchte ein wenig mitteilen. Zuerst danke ich für all Eure Rückmeldungen und Euer Mitgehen mit uns. Eure Solidarität ist uns Ansporn und Rückenwind.

Wir alle hier waren ab dem Heiligabend immer abwechslungsweise mit Grippe im Bett. Letzte Woche hatte Abraham dann nochmal Covid, aber es verlief Gott sei Dank leicht. Er erkrankte zum zweiten Mal. Seine Psyche ist zum Glück stabil und er hat wieder hohe Resilienz gezeigt im Umgang mit Isolation und allem Drumherum um Covid. Nun wird er im Februar 15 Jahre alt und er ist recht selbständig – trotz Rolli. Jetzt ist es kalt geworden und die Armen betteln immer wieder Decken und Heizmaterial. Schwierig ist es bei Stromausfällen. Auch wir im Kloster ziehen uns dann an den offenen Kamin zurück zum Aufwärmen. Leider ist der etwas falsch gebaut und wir müssen immer Türe oder ein Fenster offenlassen, sonst räuchert es uns ein, denn der Rauch geht rein statt zum Kamin raus. Anfangs Januar haben uns Sr. Gratias mit Pater Andreas und Bruder Christian zu einem Exerzitientag in Fushe Arrez empfangen und alle Mitarbeiter des Kindergartens waren mit dabei. Es war ein guter Tag und wir wurden dort total verwöhnt. Immer wieder befasse ich mich mit dem Thema ARMUT. Ich suche immer wieder nach Beschreibungen, nach dem Erfassen der Bedeutung dessen, was wir immer wieder sagen: Armut, Arm sein, es ist ein Armer. Nun habe ich seit letzter Woche dieses Wort «ARM» in meinem Knochenmark – so habe ich das Gefühl. Ich habe bis anhin viel erlebt und auch viel gesehen – aber dieses toppt nun alles bisherige. Ein Erlebnis sitzt dazu in mir: und es ist ein Bild, das ich nicht mehr vergessen werde. «Eine alte Frau und Mutter ihres schwer verletzten Sohnes zeigt mir beim Erstbesuch eine Wasserflasche, in der ein ca. 7 cm langer Knochen ist. Sie guckt mich treuherzig an und sagt: Kannst du ihn wieder einsetzen? – und sie guckt auf das Bein ihres Sohnes.» Was ist passiert? Ich wurde von einer jungen Frau per E-Mail aus der Emigration angeschrieben. Sie schickt mir schlimme Bilder ihres verunfallten Bruders, mit der Bitte, ihm zu helfen. Auf den Bildern sehen wir zwei zermatschte Unterschenkel, die Knochen stehen frei raus. Die Oberschenkel sind offene Gewebewunden. Dann fahren wir hin. Der junge verunfallte Mann lebt in Durres und befindet sich nicht im Krankenhaus. Das wissen wir. Zwei Stunden Fahrt. Sr. Michaela fährt, Donata kommt auch mit. Wir packen alles ein, was wir für die Versorgung benötigen könnten. Vorher basteln wir zwei Stunden noch eine Beinschiene aus Pappe. Der Vater holt uns an der Straße ab. Das Wohnviertel sind halb fertige Häuser, teilweise noch im Rohbau. Das Haus, in dem diese Familie wohnt, ist zwar einigermaßen fertig gebaut, aber nicht isoliert und schwer zugänglich. In dieser Gegend stranden arme Leute aus den Dörfern ganz im Süden. Dann wartet die alte Mutter auf uns. Sie hat Tränen in den Augen und ist er-schüttert, weil jemand kommt. Dann führen sie uns ins Wohnzimmer, wo der Kranke liegt. Ich schlucke, mein Blick streift kurz Sr. Michaela. Ich sehe, dass Donata erstmal weiter hinten stehen bleibt. Sie weiß, was sie sich zumuten kann. Edison ist 33 Jahre alt. Er wurde im Juni 2021 von einem betrunkenen Polizisten angefahren, liegen gelassen. Dann das erste Krankenhaus, dann das Zweite. Dann hat sich die Sippe des Polizisten eingeschaltet, die in einer Privatklinik einen Platz reserviert hatte. Dort wurde dann Edison und seinen Eltern zugesagt, dass er in einer Woche ohne Amputation auf den Füssen sein werde. Die Familie des Unfallverursachers versprach auch, alles zu bezahlen, wenn vom Opfer ein Deklarat unterschrieben wird, dass man das Strafmaß wegen der großen Fürsorge der Sippe doch mindern möchte. Dies hat die Familie von Edison unterschrieben. Nach zwei fehlgegangenen Operationen hat sich die Sippe jedoch verabschiedet und die Eltern mit dem Sohn mit einem Haufen Schulden allein gelassen. Edison musste dann im September aus der Privatklinik, weil der Vater kein Geld mehr aufgetrieben hat. Er wurde einfach mit den zertrümmerten Beinen und mit den offenen Wunden an den Oberschenkeln nach Hause geschickt. Wir finden Edison in einem sehr miserablen Allgemeinzustand. Seine Augen sind tief in schwarzen Augenhöhlen. Er liegt bis zum Gesäß im Wundwasser und im Eiter und Blut. Die arme Mutter kommt nicht nach mit Wechseln und jede Bewegung bedeutet für den jungen Mann eine Tortour ohnegleichen. Er hat einmal am Tag 10 Tropfen Tramadol gegen die Schmerzen verordnet bekommen – am Abend zum Schlafen. Es klingt immer noch wie Hohn in meinen Ohren, als er dies erzählt. Die Wunden an den Oberschenkel sind durch die Hautentnahme entstanden und nie abgeheilt. Sie sind inzwischen stark infiziert. Die Unterschenkel sind zertrümmert, das Transplantat ist schief gegangen. «Leider Krankenhaus-Keime» sagte die Klinik. Die Füße wurden nie richtig gelagert. Uns glotzen zwei Spitzfüße an, die irreversibel deformiert sind. Ein Krankenpfleger kommt zwischendurch und reißt ihm dann die Verbände runter, dass er schreit, wie Edison selber sagt. Der Pfleger verlangt für seine Arbeit von 8 bis 10 Stunden im Monat einen gesamten Monatslohn. Der Vater sagt kläglich, dass er nun nicht mehr bezahlen konnte. Mir läuft es kalt den Rücken runter. Auch im Zimmer ist es kalt. Der kleine Heizer kommt nicht gegen die kalten unisolierten Außenwände an. Eine Ecke im Zimmer ist bereits schwarz vor Schimmel. Ein Eisengestell steht am Fenster. Der Vater erklärt, dass sie dieses Gestell über das Bett von Edison stellen, wenn er seine Notdurft verrichten muss. Dann hieven die Eltern ihn mit dem Oberkörper hoch, er hängt dort wie am Reck und verrichtet dann die Notdurft. Sr. Michaela schluckt jetzt und guckt mich an. In diesem Moment kommt die Mutter und zeigt mir die Flasche mit dem Knochen. Dieses Stück vom Schienbein ist drei Tage vor unserem Besuch bei dem Hebemanöver aus dem Knochen auf den Boden gefallen. Die verzweifelte Mutter hat ihn aufgehoben und hofft, dass ihr Sohn eines Tages wieder laufen kann – mit dem von ihr geretteten Knochenstück. Ich hoffe, dies war nicht zu viel für Euch. Wir möchten niemanden zu viel zumuten. Wir sind dabei, für Edison wenigstens das Überleben zu sichern. Es ist klar, dass amputiert werden muss. Wir suchen eine Klinik, die ihn übernimmt. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ist hier nicht üblich. Es ist auch nicht üblich, einen Patienten zu übernehmen, der in einer anderen Klinik war und nun so aussieht. Wir haben aber ein Wunder erlebt: eine Unfallklinik in Bayern hat uns unkompliziert und unbürokratisch beraten. Dies tut gut – mehr als wir sagen können. Und ein Paket zur Wundversorgung ist von dort zu uns unterwegs. Arm!! Hier sieht man keine Hungerbäuche. Das wäre einfacher – vielleicht! Diese Armut ist anders: Mehr und anders als Hunger und kein Geld und Schulden: tiefer- in alle Lebensbereiche hinein. Die Wasserflasche mit dem Knochen drin, die die Mutter mir gibt zum anflicken. Sie symbolisiert es für mich. Und ich frage mich auch, ob der Verlust des ethisch moralischen Bewusstseins von all jenen, die an diesem Schicksal verdienen, die die Schwächsten ausbeuten und so elend liegen lassen, nicht letztlich die größere Armut ist. Edison hat sich eines erhalten: er konnte weinen, er konnte umarmen, er hat sein Herz behalten. An Rache denkt er nicht. Und wie in der Luft schon dezent der Frühling riecht, so hoffen wir, dass Edison seine Lebensgeister zurückbekommen kann. Wir tun alles, was uns nur möglich ist. Gott möge uns die Kreativität geben, die wir dazu brauchen.

Wir wünschen Euch allen eine gute gesegnete Zeit

Eure Sr. Christina

Hoffnung

8. Oktober 2021

Hoffnung findet Wege


Liebe Schwestern und Brüder in der Heimat,
wenn gerade die Herbstsonne ihre schon längeren Schatten wirft, dann wird es mir bewusst, dass ein Vierteljahr seit dem letzten Rundbrief vergangen ist. Gerne melde ich mich wieder. Wahrscheinlich könnte ich über die letzten Monate ein dickes Buch schreiben. Es würde den Titel wie oben haben: «Hoffnung findet Wege oder sucht Wege!» Ich möchte Euch nicht verschweigen, dass wir drei schwere Monate hatten. Seit Dienstag,
also vier Tage nun, atmen wir auf. Unsere treue, selbstlose Irena war anfangs Juli am falschen Platz und am falschen Ort. Sie wurde von uns im Dienst dorthin geschickt. Und sie wurde verhaftet – und hat nun drei Monate im Untersuchungsgefängnis verbringen müssen. Die Zeit dazwischen ist schwer in Kürze zu beschreiben: «Sorge um Irena, Wut, Hilflosigkeit, Suchen nach Lösungen, Hoffnung auf sofortige Freilassung, Begraben dieser Hoffnung und wieder neue Hoffnung bis zum nächsten Verhandlungstermin, nicht zuletzt auch die Auseinandersetzung mit meinem Schuldgefühl, dass sie für mich da «einsitzt». Für mich war schwierig, einfach keinen Zugang zu ihr zu bekommen, ich konnte nur einige Male ganz kurz mit ihr telefonieren. Besuchserlaubnis erhielt ich nicht. Da die Post nicht so funktioniert und geschlossene Brief nur per Post ausgehändigt werden, habe ich das «Tagebuch von Anne Frank» in albanischer Sprache gekauft und in Anne’s Eintragungen einige Gedanken von mir für Irena handschriftlich zugefügt. Irena sagte nun, dass sie dies alles miteinander (mit Zimmergenossinnen) gelesen haben. Niemals hätte ich gedacht, dass ich jemals in so einer Situation sein würde. Die Mitarbeiterinnen hier hat es stark mitgenommen, aber diese Zeit hat uns alle auch noch mehr zusammengeschweisst. Ein Geschenk in dieser Zeit hat mir der Himmel gemacht: ich konnte mich irgendwie zu GOTT durchwühlen und das innere Wissen bekommen, dass, trotz allem, GOTT da ist und «nichts, aber auch gar nichts, uns alle von SEINER Liebe trennen kann – auch die grösste Ungerechtigkeit nicht. Aber ich gebe zu, ich wühlte mich da durch, wie so ein Maulwurf, der seinen Gang durch die dunkle Erde buddeln muss. Und ab und zu bin ich mit meiner Maulwurfnase schwer angestossen. In diesen Zeiten war ich umso dankbarer für Sr. Michaela, ihre Sicht, ihre Gefühle, ihr Dasein. Wir sind froh, dass wir uns gegenseitig haben. Dies ist uns in diesen drei Monaten wieder auf ganz andere Weise gezeigt worden. Wir durften diese Herausforderung bestehen, wenn wir auch Blessuren haben, die noch Zeit brauchen. Und Irena ist nun daheim, wenigstens raus aus dem Untersuchungsgefängnis. Es geht ihr gut; sie braucht aber Zeit. Was wir jetzt schon wissen: Sie war in ihrer Zelle die Mutter und die Freundin und die Trösterin der anderen. Das erste, was sie sagte, als sie uns am Mittwoch dann begegnete: «Ich möchte bitte Kerzen anzünden für jene, die ich dort zurückgelassen habe; ich habe ihnen das versprochen und auch mein Gebet!» Das ist Irena. Sie sagte uns dann noch, dass sie jeden Abend in ihrem Loch ein Gebet zu Gott geschrieben hat. Wir haben dann ein wenig miteinander geweint. Nun haben wir sie wieder und irgendwie kommt es mir noch ganz unreal vor, als wäre ihre Präsenz nicht wirklich, eher ein Hauch von ihr, der schnell wie entgleitet. Und das Leben hier ist weitergegangen, die Tage sind nach dem Urlaub im August den längeren Abenden entgegengeflogen. Und sie waren und sind gefüllt von viel Not und steigender Armut und gleichzeitig von der Hoffnung der
Menschen, bei uns ankern zu können. Leider ist die Coronasituation hier sehr prekär geworden. Eben kam Sr. Michaela und erzählte, dass ein jüngerer Polizist, den wir auch kennen, daran gestorben ist. Gleichzeitig traf sie unseren Trinkwasserlieferer, der dann mitteilte, dass seine Mutter an Covid nun verstorben sei. Wir lieferten noch ein Krankenbett von uns, bevor sie ins Spital überwiesen wurde und dann dort gestorben ist. Es sind jeden Tag neue Familien aus unserem Wohngebiet, die das Virus haben und denen es teilweise sehr schlecht geht. Wir bringen Lebensmittel, Hygieneartikel, Desinfektion und kaufen die notwendigen Medikamente. Die Angst geht nun um; die meisten sind nicht oder noch nicht vollständig geimpft. Wir hoffen und beten und tun, was wir können. Die ökonomische Situation hat sich die letzten zwei Wochen enorm verschlechtert, da die Preise für Grundnahrungsmittel wie Mehl, Reis, Speiseöl enorm gestiegen sind. Gemüse und Obst ist nicht mehr erschwinglich. Gemüseskandale wie z.B. mit längst verbotenen Pestiziden verseuchte und nun aus dem Verkehr genommenen Tomaten, machen das Ganze zur vollen Misere. Dazu kommt noch eine angekündigte Preissteigerung für Wasser, Strom und Gas. Die meisten Menschen hier wissen nicht mehr, wie sie diesen Winter überstehen sollen. Sie denken nur noch an eines: nichts wie raus aus diesem Land. Dazwischen sind dann noch wir wie so ein flackernder Leuchtturm im Sturm. Ja, sie kommen nun in Haufen, in Scharen, in Verzweiflung und mit Hoffnung. Schwester Michaela hat schon begonnen, die noch nicht verteuerten Makkaroni aufzukaufen, damit wir diese verteilen können. Dank sei Gott können wir unsere Kinder im Kindergarten jeden Tag mit gutem, vitaminhaltigem Essen versorgen. Täglich werden wir zu Kranken in den Häusern gerufen. Die verfaulen in den Betten und sind allein gelassen. Wir müssen eine Art häusliche Krankenpflege aufbauen. Wir können das selbst nicht mehr stemmen, da die Menschen aus allen Himmelsrichtungen zu uns kommen. Die ersten Gespräche sind geführt, da die weiteren Anfragen diesbezüglich auch von zwei Priestern aus umliegenden Gemeinden gekommen sind. Es ist gut, wenn das Blickfeld soweit ist, dass die Notlage erkannt ist und die Pflegbedürftigen langsam aus der Tabuzone in das
Lebensumfeld rücken. Wo der Leidensdruck nicht die Depression, sondern gutes Hinterfragen und Aktivwerden fördert, da besteht Hoffnung auf anhaltende Kreativität zur Änderung. So stehen nun in diesem Monat die ersten Gespräche zur Realisierung der Hilfeleistung bevor. Ich bin schon gespannt und auch voller Tatendrang. Die Alten und Schwerkranken liegen uns sehr am Herzen, manchmal auch ein paar Nächte lang im Magen.
Da muss ich eine Erfahrung erzählen, die mich seitdem auch nicht mehr losgelassen hat. Es ist jetzt keine so ästhetische Begebenheit: Ich wurde von einer jungen Schwester aus einem anderen Orden gebeten, mit ihr eine Schwerkranke zu besuchen, weil sie mit dieser Frau nicht weiterwisse, wie sie sagte. Sie sagte mir am Telefon nur, dass es einfach schrecklich wäre dort und ich bald kommen sollte. Ich vereinbarte mit ihr am selben Nachmittag einen Besuch. Was ich dann erlebte, war eine der heftigsten Krankenbesuche, die ich bislang gemacht habe: eine etwas übergewichtige alte Frau lag auf einem gestickten, verdreckten
Sofakissen auf der Seite auf einem alten Bettgestell. Die stark angeschwollenen und aufgeplatzten Beine lagen schräg ausserhalb des Bettes auf einem Holzstuhl. Das Wundwasser tropfte runter. Als ich sie mit ihrem Namen ansprach, drehte sie sich langsam zu mir um und ich blickte in ein Blut verschmiertes Gesicht, das heisst, Blutkrusten verklebten ihr Gesicht. Das ganze Bett war voll mit Blut verschmierten Lumpen, überall war
altes verschimmeltes Essen und es roch nach Urin und Blut und Fäulnis. Ich kam vor lauter Unrat nicht durch, um das Fenster zu öffnen. Die Tochter, die da war, sagte mir, dass sie selbst schwer depressiv sei und sie sich nicht um die Mutter kümmern könne. Seit zwei Tagen hatte die Frau schwere Blutungen aus Mund und Nase. Das Blut liess sie sich nicht wegwischen. Einen Arzt sowie die Einweisung ins Krankenhaus verweigerte sie aus Angst, dass sie dort von Corona angesteckt werden könnte. Ich vermutete allerdings bei ihr selbst Corona. Sie hatte schwerste Atemnot und auch Fieber. Sie verweigerte mir auch, sie zu waschen usw. Wir konnten mit ihr vereinbaren, dass die Vinzentinerin mit einer Frau zuerst mal das Zimmer ein wenig in Ordnung bringen wird. Ich versprach ihr, eines unserer Pflegebetten für sie zu organisieren. Es war in diesem Zimmer jedoch keinerlei Platz für dieses. Ich entdeckte eine zweite Tür am Gang und fragte, ob dieses Zimmer denn für das Bett Platz
habe. Da erreichte mich ein schriller Schrei aus dem Krankenzimmer. Die kranke Frau verbot mir mit aller Kraft, dass ich in dieses Zimmer trete. Der schrille Schrei dieser mit Blut verschmierten, völlig atemlosen und entkräfteten Frau sitzt mir noch heute in den Gliedern. Ich ging zu ihr zurück und fragte vorsichtig, was es denn mit diesem Zimmer auf sich habe. Da sagte sie folgendes – mit sichtlicher Angst: «In diesem Zimmer lebt die Seele meines Mannes; er ist dort gestorben!» Ich konnte mich nicht setzen, da alles so verschmuddelt war.
Aber jetzt rang ich irgendwie auch nach Atem oder ich brauchte eine Atempause, um gut reagieren zu können.
Ich fragte sie dann ein wenig nach ihrem wohl vor Jahren verstorbenen Mann und ging langsam das Thema nach der Öffnung des Zimmers an. Ich sagte ihr auch, dass ich sicher sei, dass ihr Mann seinen Frieden gefunden habe und seine Seele nun frei sei. Sie willigte ein, dass ich die Tür öffne und reinschauen kann. Aber sie erklärte mir nochmals mit aller Kraft, dass sie niemals in dieses Zimmer gehen werde. Nun, ein Schritt der Annäherung an das Seelengespenst des verstorbenen Mannes war damit getan. Sie hatte die Tür auch zu ihrer
verbarrikadierten Seelen-Angst einen kleinen Spalt geöffnet. Was ich dann sah und vor allem roch, das war dann schon eher wieder gespenstisch: Das Totenbett war noch so, wie vor Jahren, aber alles vergärt, verschimmelt. Der Gestank wurde von einem Eimer voller verfaulten Zwiebeln dann noch gesteigert. Ich lief raus auf den grauen, tristen Gang des Blockhauses und lehnte mich über das Treppengeländer. Dieser Besuch schreit mir die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer organisierten ambulanten Betreuung der Kranken und
Alten förmlich ins Gesicht. Und da kommt in diese Not der Menschen dann einfach Hoffnung: da machen sich Leute wie die «Bullis», trotz Corona, auf den Weg und bringen Hilfsgüter. Sie laden nicht nur ab – sie
interessieren sich für die Menschen und uns. Da kommen Pakete, da kommen Praktikanten, um uns ganz praktisch zu helfen, da wird für uns gebetet, da wird organisiert und gefragt, wie es uns denn geht. Und da haben Geschäftsleute aus meiner Heimatstadt ihre Kleider, die wegen Corona nicht verkauft werden konnten, nicht einfach entsorgt. Diese neuen Kleider haben wir nun bekommen. Diese Solidarität ist Hoffnung. Es wäre einfacher gewesen, diese Kleider zu entsorgen. Viel Einsatz von ganz vielen Leuten hat es gebraucht, diesen Transport zu ermöglichen. Wir sind unglaublich dankbar und gerade am Verteilen. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie glücklich die Menschen hier sind, einmal ein neues Kleidungsstück anziehen zu dürfen. Eine junge Frau hat mir geschrieben, dass sie die ganze Nacht nicht geschlafen hat, weil sie die Hose und den Pullover nicht mehr ausgezogen hat. Und die kommende kalte Jahreszeit mit weniger Strom und Licht und Wärme wird leichter, weil eine warme neue Jacke wärmt. Wir können Euch allen nur danken für jegliche Form
Eurer Unter-stützung, sei diese materiell oder menschlich und spirituell. DANKE.

Gott segne Euch alle
Sr. Christina und Sr. Michaela

Die gespendete Kleidung wird sortiert. Foto: Schwester Christine

13. Oktober 2020

Begegnung

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Freunde in der Heimat,

grüss Gott aus dem Klösterle. Wir hoffen, Ihr seid wohlauf und dürft Euch auch ein wenig an den Herbstfarben freuen.

Ich bin wahrscheinlich den letzten Morgen in diesem Jahr draussen an der Muttergottes-grotte gehockt, um die Laudes zu beten und ein wenig zu meditieren. Ein paar Weinberg-schnecken kreuzen meine Gedanken, buchstäblich. Sie eilen nicht und ich denke, ob sie manchmal über meine Hektik ihr Haus schütteln vor Lachen. Die Luft ist schwül heute Morgen und in der Nacht hat die Erde wieder gezittert. Seit etlichen Tagen gibt es Erdbeben bis zu 4,6 auf der Richter – Skala in der Gegend, wo letztes Jahr das grosse Erdbeben war. Ich segne die Erde und das Wetter an diesem Morgen. Es ist Sonntag. Ich lasse die letzten zwei Wochen nochmal vorbeifliegen. Über mir ächzt der angerissene Ast unserer Trauerweide. Auch hier ist es nach sehr heissen Wochen kühler geworden und der Regen ist gekommen. Gott sei Dank. Wir hatten die letzten vierzehn Tage immer wieder starke Unwetter, aber alles ging noch relativ glimpflich ab. Unsere Garage hat es in einer Nacht überschwemmt, die Küche im Kinderzentrum auch. Es hat den Bauern Früchte von den Bäumen geschlagen und teilweise auch die Obsternten vernichtet. Wir sind dankbar, dass die Unwetter keine Leben gekostet haben. Mit Corona ist die Lage hier noch chaotischer geworden. Unsere Ambulanz ist auch «überschwemmt». Patienten, die dringend ins Krankenhaus gehören, kommen hierher. Sie haben Panik vor dem Krankenhaus wegen einer Ansteckung mit dem Corona-Virus. Und dann hält sich hier sehr zäh die Fake News, dass Kranke mit Corona in den Krankenhäusern eine Todesspritze bekommen. Das Vertrauen in das medizinische System war eh schon angegriffen; jetzt ist es sozusagen unter null. Da kommt ein Vater mit seinem Jungen. Er hat eine schwere Milzvergrösserung und ganz hohe Leukozytenzahl und hohes Fieber. Er hat mit seinem Sohn das Krankenhaus, genau wegen dieser Angst, auf eigene Verantwortung verlassen und meinte nun, wir machen den Jungen hier mit irgendeinem Wundermittel gesund. Solche Situationen häufen sich. Und die Ambulanz ist eine Art Sozialzentrum geworden. Viele, viele schicksalshafte Lebensgeschichten werden da neben den körperlichen Gebrechen ausgepackt. Da ist eine Frau, die sich verbrannt hat und jeden Tag daheim Gewalt erlebt. Sie ist leider kein Einzelfall. Die Frauen hier können nicht in ein Zentrum gehen und Hilfe holen. Es in der eigenen Familie publik zu machen oder zu den Eltern zurückzukehren, ist fast unmöglich, da die Tradition des Kanun hier sehr strikt ist: Die Frau gehört ab der Hochzeit der Sippe des Mannes. Immer wieder gelingt es jedoch auch, dass eine Frau ihre Opferrolle erkennt und aus dieser Rolle sozusagen aussteigt. Wir haben ja dafür teilweise auch wochenlang Zeit, denn Brandwunden heilen ja nicht an einem Tag. Und auch Männer «packen» aus in der Ambulanz. Vor zwei Tagen war da Xhupi, ein Mann wie ein Schrank so körperlich stabil. Seine Verbrennung war nicht so schlimm, aber seine Haut am Fuss war trocken und rissig. Ich cremte dann den Fuss noch ein und da fing er an zu weinen. Und er sagte: «Schwester, ich habe schmutzige Füsse. Du cremst sie einfach.» Er weinte weiter und erzählte: «Meine Tochter hatte ein gutes Geschäft mit dem Schwieger-sohn. Alles war in Ordnung. Dann kam Corona. Sie verloren alles durch den Lockdown. Sie sind noch nach Deutschland abgehauen. Irgendwo sind sie mit den zwei Enkelkindern in einem Lager. Ich bin allein. Meine Frau ist tot. Ich möchte nicht mehr leben. Und Du cremst mir nun die Füsse. Was mache ich denn jetzt?» Wir redeten lange. Es ging ihm besser, als er gestern wiederkam.

Ein Vater bringt seine verbrannte kleine Tochter. Wir wissen, dass dieser Mann sein Geld nicht auf legale Weise verdient. Nach dem Verbinden macht er seinen fetten Geldbeutel auf und da strotzen die 5000 Lek-Scheine. Er möchte bezahlen. Ich sage ruhig: «Nein, du kannst dieses Geld ein paar armen Bettlern auf der Strasse geben. Wir nehmen kein Geld, bete für uns!» Da ist er durcheinander. Ich sage ihm: «Mit Geld kann man nicht alles machen, weisst Du? Unser Dienst ist hier kostenlos, aber wir bitten um Dein Gebet. Hast Du das Vaterunser vergessen? Als kleiner Junge hast Du es gebetet!» Ich gucke ihn an; er nickt. Und ich sage: «Du wirst dich erinnern, das weiss ich. Bete dann für uns, für Dich und Deine Tochter.» Wieder nickt er und steckt seine Geldscheine in die Tasche. Ich gebe ihm den Segen. Er guckt mich völlig erstaunt an.

Unsere Patienten sind auch erfinderisch in Bezug auf Distanzmassnahmen nicht einhalten. Es fällt den meisten sehr schwer, ein wenig Distanz zu halten und keine Dankküsse zu verteilen. Nun, die Gesichtsmaske lässt das ja nicht so zu. Da kommen dann inzwischen einige der Patientinnen auf die Idee, mir einfach die Schulter zu küssen. Und so manches mal ist dann der Lippenstiftkuss am Habitärmel oder halt als «Abzeichen» auf der Schulterpartie der Kleidung.

Ich möchte noch von unseren Kids im Kinderzentrum erzählen. Wir haben festgestellt, dass die Kids in der Coronakrise oft die stillen Leidenden sind. Die Erwachsenen finden leichter ihren Weg. Sie können drüber reden, drüber diskutieren, über Massnahmen auch schimpfen usw. Und die Kinder sind verstummt; ihre Ängste können sie nicht artikulieren. Das Phantom, das Corona heisst, schwirrt ihnen dann in der Phantasie herum, aber bekommt keine konkreten Formen. Die Aggressivität nimmt zu. Eine Erzieherin erzählte mir, dass ihr ein paar Kinder rigoros die Maske vom Gesicht reissen und diese dann zerstören. Wir haben ein Programm entwickelt, wie wir mit den Kids in dieser Zeit

umgehen können, dass sie das Corona-Trauma einigermassen gut überstehen. Zum Programm gehört auch ein Puppen-theater. Leider sind auch die Coronazahlen hier steigend und ab Donnerstag ist Masken-pflicht überall, draussen und drinnen. Für Nicht-Einhalten gibt es Strafen. Diese Geldbussen sollen mit den Stromrechnungen verschickt werden.

Unser Müllabfuhrmann Franzi hatte mit seiner gesamten Familie Corona. Es ging ihnen schlecht und es war schwierig, ihnen die Einsicht zu vermitteln, dass sie nun in Quarantäne gehen müssen. Die Oma der Familie war schwer krank. Sie wurde aber daheim versorgt. Für eine Infusion anhängen, musste die Familie sehr lange eine Krankenschwester suchen, die das dann für viel Geld machte. An Coronakranken, die daheim sind, wird sehr viel Geld verdient. Denn die Gefahr, angesteckt zu werden, erhöht hier den Preis für das Anstecken einer Infusion oder das Geben einer Spritze um ein Vielfaches. Wir brachten dann der Familie Lebensmittel, Hygieneartikel und alles, was sie brauchten. Und Franz meinte dann, so gut habe er im Leben noch nie gegessen.

Nun, dann ist da eben Sonntag. Um 13.30 sagt mir Sr. Michaela, dass drüben, 200 Meter weit von uns, am Verkehrskreisel bei den 5 Helden eben ein Polizeichef aus der angrenzen-den Region im Auto angeschossen wurde. Sein Vater wurde auch schwer verletzt. Die Attentäter sind mit dem Motorradl gekommen und verschwunden. Der Polizist schwebt in Lebensgefahr. Am Abend sagt uns ein Freund, dass immer noch die Scherben vom Auto- fenster auf der Strasse liegen. Ich bin wieder mal betroffen. Diese Strasse ist die Hauptachse von Nord-Süd in Albanien und die Unglücksstelle ist nicht gesäubert nach einem halben Tag! Ich rufe diesbezüglich noch einen Polizisten an, aber der lacht mich fast aus. Nach kurzer Rücksprache mit Sr. Michaela entscheide ich, an den Kreisel zu fahren und die Scherben aufzukehren. Der Gedanke, dass da Menschen angeschossen wurden, jetzt um das Leben kämpfen und jeder über die Scherben fährt, das ist für mich völlig inakzeptabel. So nehme ich Besen und Schrubber, Kehrschaufel und einen Eimer und fahre los. Ida kommt mit, um ein wenig aufzupassen, dass ich nicht von einem Fahrer zusammengeschrubbt werde, denn dort ist viel Verkehr. Und es ist kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Am Strassenrand sind ein paar Flüchtlinge, die die Balkanroute für die Flucht benutzen und machen Pause. Ich grüsse sie, parke das Auto mit Warnblinklicht und steige aus. Viele feine Glasscherben sind auf der Strasse. Ich denke daran, dass ich 20 Minuten vor dem Attentat dort vorbeifuhr, um Abrahams Freund zu holen. Viele Autos kommen, aber sieverlangsamen. Ich beginne, die Scherben zusammen zu kehren und in den Eimer zu leeren. Ein junger Autofahrer stoppt kurz und ruft aus dem Fenster: «DANKE Moter, Gott segne Dich!» Und dann dauert es keine Minute, da stehen vor mir zwei der Flüchtlinge. Einer der Jungs umarmt mich, sagt: «Oh Mama!» und nimmt mir den Besen aus der Hand und kehrt zusammen. Der andere kippt die Scherben in den Eimer. Dann umringen mich alle Vier und wollen eine kurze Umarmung und jeder kehrt ein wenig. Ich stehe einfach nur da, meine Gesichtsmaske ist mir längst aus dem Gesicht gerutscht. Die Autos fahren vorbei und stoppen zeitweise kurz. Ich habe in diesen paar kurzen Minuten kein Zeitgefühl, erlebe nur unglaubliche Intensität der menschlichen Begegnung zwischen bis dahin sich völlig fremden Menschen. Dann sind die Glassplitter alle im Eimer. Ich gebe dem ersten Flüchtling die Hand und lege einfach meine Hand auf seine Stirn, um leise zu segnen. Da kommt der nächste Junge, zeigt zum Himmel und beugt seinen Kopf und so machen es alle. Die muslimischen Brüder von der Strasse möchten den Segen – Glaubensgrenzen fallen hier. Und sie verstehen weder Englisch noch albanisch noch deutsch. Sie kommen alle aus Afrika; dies konnten sie vermitteln. Aber auch die Sprachgrenzen sind hier nicht relevant, diese Sprache mitten auf der Strasse in all dem ist eine andere. Ein paar von ihnen haben Tränen in den Augen und sagen nochmal «Mama». Dann gehen sie weiter, den Weg Richtung See. Wir wissen inzwischen, dass Schlepper für die Route über den See sehr viel Geld verlangen.

Diese Begegnung werde ich nie vergessen; sie hat sich jetzt schon eingegraben. Und aus den Glassplittern werde ich einen Mosaikengel machen. Das, was dort an Unheil am Mittag an diesem Sonntag geschehen ist, kann man nicht rückgängig machen. Aber auch das, was dann am Abend geschah, bleibt in einer ganz kleinen Geschichte wie als Gegenstück präsent, auch wenn es noch so unschein-bar für die grosse Welt ist.

Und auch Ihr, die Ihr uns mit so viel Kreativität in diesen Krisenzeiten helft und unterstützt, tragt viel dazu bei, dass Gutes geschehen darf und kann und wir da sein können für die Menschen hier. Dafür sagen wir DANKE und Vergelt`s Gott.

Mit den besten Segenswünschen Sr. Christina und Sr. Michaela

Sr. Michaela räumt die abgebrochenen Äste in unserem Klostergarten weg.

30. April 2020

Rundbrief von Schwester Christina aus Albanien

Nebenschauplätze – oder doch zentral?

Liebe Schwestern und Brüder in der Heimat, liebe Freunde überall

Es ist Sonntag nach Ostern, der Sonntag der Barmherzigkeit, wie er heißen darf. Und ich denke, wie viele Facetten die Barmherzigkeit Gottes wohl hat in diesen Tagen? Und ich denke, wie viel Kreativität dieser Gott uns gibt, damit wir, ja wir, in dieser Krise das Erbarmen erfahren und weitergeben. Und ich frage mich, ob es mir das Herz und den Magen und das Gehirn umdreht und mobil macht, wenn ich an die Betroffenen der Krise denke und sie vor allem vor mir habe? Aber zuerst: wir hoffen, dass es Euch «drüben» einigermaßen gut geht, dass Ihr nicht erkrankt seid und mit Euren Lieben irgendwie den Kontakt halten könnt. Wir hoffen, dass Ihr die «Maßnahmen» unbeschadet überstehen dürft und ohne totalen «Koller» durchgehen könnt. Dafür bitten wir auch. Und wir beten, dass Gott der Allmächtige uns beherrschen darf, dass ER SEINE Gnade ausgießen darf über uns und nicht das Virus alles beherrscht, alle Gedanken, alle Handlungen und Regungen. Wir hoffen und beten, dass der Geist Gottes, der Geist des Lebens in unseren jetzt sehr geschlossenen Lebensräumen den Atem des Lebens und der Heiligkeit und der Achtung vor jeglichem Leben neu ausgießen darf. Und so wird das Virus und die Folgen nicht das letzte Wort haben. Und wir hier? Ich möchte ein wenig aus der letzten Woche berichten. Wir hatten ja wirklich alle am Beginn vom Februar eine schwere Grippe. Viele Mitarbeiterinnen waren, ebenso wie Abraham, zusätzlich von einer schweren, doppelseitigen Lungenentzündung betroffen. Diese Phase ist vorbei. Aber Shkoder hat nun etliche registrierte Corona-Patienten. Unser Wohn-gebiet in Kiras und Dobrac ist sozusagen ein «Coronanest» geworden. Wir halten Hygieneregeln ein; die hielten wir aber sowieso schon vorher, da wir immer auch infektiöse Patienten in der Ambulanz haben.

Uns beschäftigen hier mehr die «Nebenwirkungen» der Schutzmaßnahmen und der Isolation, der Schließung aller Institutionen und Geschäfte, der Fabriken usw. Seit Freitagnachmittag herrscht nun bis Montag früh absolute Ausgangssperre. Aber seit gestern gibt es Ausnahmen. Gestern durfte ich als Pensionistin (ab 60 Jahre) bis 11 Uhr mittags raus zum Luft schnappen. Heute dürfen nun Mütter mit Kids bis zu 10 Jahren auch so lange raus. So ein bisschen wie im Zoo. Schwester Michaela kam gestern an und meinte etwas ironisch: «Heute bist Du dran, aber alleine. Morgen kann ich ja dann mit dem Toni raus auf die Promenade.» Wir haben zum Luftschnappen unseren Garten und genießen jedes Blümle, das neu blüht. Sr. Michaela und ich haben eine Sondergenehmigung für Sozial- und Krankendienste. Das sieht dann so aus: Wir befinden uns auf den Nebenschauplätzen: Jeden Morgen (außer jetzt eben am Wochenende) fährt Sr. Michaela los mit ihrer Sondergenehmigung. Sie passiert Polizei- und Militärkontrollen inzwischen relativ unbehelligt. Sie kauft Unmengen von noch vorhandenen Lebensmitteln ein. Diese werden dann bei uns zu Carepaketen verpackt und dann wieder von Sr. Michaela an jene verteilt, die nicht aus den Häusern können. Die anderen Armen, die jetzt noch ärmer sind, stehen dann am Vormittag vor unserem Tor. Manche haben eine Gesichtsmaske, die meisten nicht. Wer Hunger hat, interessiert sich nicht für Schutz und kann vor allem keine Maske kaufen. Er braucht was zum Essen für die Kids. Zum Schutz davor, dass nicht etliche Familienmitglieder einzeln kommen, um mehr Pakete zu erhalten, müssen wir inzwischen die Identitätskarten verlangen. Oft kommt Sr. Michaela heim und erzählt, dass die Familien schon nichts mehr zum Essen hatten, bis von uns Nachschub kam. Und sie erzählen auch, dass die eingeschlossenen Kids jetzt viel mehr Hunger haben. Und auch unsere Kindergartenkinder haben keine Mittagsmahlzeit mehr, die sie im Kindergarten bekommen. Wie viele inzwischen ihre Arbeit in Fabriken, als Tagelöhner, in Kleinstgeschäften etc. verloren haben, das wissen wir nicht. Es sind bestimmt viele. Neben Lebensmitteln gehört zum Carepaket inzwischen auch Seife zum Händewaschen. Wir hoffen, dass das Wasser einigermaßen reicht, aber nicht alle haben Zugang. Dann ist da ein neues Phänomen, mit dem wir in der Krise wohl auch rechnen müssen: Panikreaktionen der Patienten. Es wurde eine junge, relativ schwer verbrannte Frau angemeldet. Sie kam mit ihrem Mann und musste einige Augenblicke im Korridor warten. Die junge Frau war «schwer» ausgerüstet: professioneller Mundschutz, Handschuhe und nochmal ein Tuch rum. Dann marschierte Ndua, ein älterer Patient, aus der Ambulanz und die junge Frau rastete aus. Sie weigerte sich, in die Ambulanz zu gehen und sich dort das todbringende Virus zu holen, wie sie sagte. Sie ging voll auf Angriff über und ich blieb mal in sicherem Abstand stehen. Sr. Michaela versuchte, sie zu beruhigen. Aber da wurde es ihrem Mann zu viel und er wollte sie mit Gewalt in die Ambulanz zerren. Er war nahe daran, sie einfach zu verhauen. Das konnte verhindert werden. Wir erklärten dann, dass wir sie nicht zwingen werden zur Behandlung. Und wir gaben ihr das Verbandmaterial und die Salbe mit, in der Hoffnung, dass sie heilen darf. Solche Panikreaktionen müssen wir einfach im Blickfeld haben in solchen Zeiten. Das war unsere Passage zum Lernen. Und solange keine(r) bewaffnet vor uns steht, ist alles in Ordnung. Dann ruft mich Sr. Rita an. Sie gehört einem ganz kleinen Konvent aus Italien an und ihre Schwestern und sie haben auch nichts mehr zum Essen, geschweige denn zum Verteilen an die Armen. Und sie bittet um einen Krankenbesuch bei einer noch recht jungen Frau, die mit Hirnblutung und Dekubitus unversorgt ist, da die Krankenschwester nicht mehr kommt aus Angst vor Corona. Diese Situationen haben wir jetzt sehr gehäuft. Ich packe alles ein, was mir so einfällt, um die Frau zu versorgen. Die 16-jährige Tochter der Patientin erwartet uns. Ricarda kümmert sich rührend um die Mama, aber sie hat Angst, weil sie eben jetzt alleine ist. Sose, die Mama, liegt sehr teilnahmslos im Bett. Damit sie ruhig bleibt, hat die Kranken-schwester für die Zeit ihrer Abwesenheit einfach Haloperidol dagelassen. Das hat dann die Katastrophe bei Sose ausgelöst. Und sie ist seit drei Wochen wund gelegen. Das Trinken hat nicht mehr geklappt und so ist sie auch noch ausgetrocknet. Ich weiß, wenn wir es nicht schaffen, dass sie trinkt, wird sie an Austrocknung sterben, ihr Organsystem versagen. Ich arbeite mich zu Sose vor, indem ich mich zu ihr ins Bett setze und sie an mich ziehe. Sie ist nur noch Haut und Knochen. Meine Schutzmaske hängt irgendwo an einem Ohr und ich muss komisch ausgeschaut haben. Jedenfalls hat Sose dann irgendwann nach viel Zuspruch und Wangenstreichen reagiert und die Augen aufgemacht. Die Tochter fing zu weinen an, weil sie meinte, die Mama sei schon tot. Ich sagte Sose, dass jetzt noch nicht die Zeit zum Sterben sei, erzählte ihr, dass ihre Tochter sie noch brauche und dass schließlich Ostern sei und sie noch nicht ins Grab könne jetzt. Als ich meine Bettpredigt beendet hatte, schlug sie nochmal die Augen auf und sagte glatt und trocken: «AMEN!» Nun fielen beinahe Sr. Rita und die Tochter in Ohnmacht. Dann gings weiter. Ich sagte: «Ein Glas Wasser bitte.» Ich sah einige Momente vorher, dass Sose wohl ihren Speichel geschluckt hatte, ein Zeichen, dass sie noch schlucken kann. Ricarda bekam Angst und sagte, ihre Mutter würde ersticken. Ich erklärte der Tochter ruhig, was ihr vorhatte und sie stimmte zu. Dann führte ich das Glas an den Mund und die Patienten schluckte und schluckte und trank das ganze Glas aus. Sie hatte Durst. Und dann lächelte sie. So erklärte ich dann Ricarda, wie sie ihre Mama versorgen könne und auch sie lächelte. Als ich dann Sr. Rita nach Hause fuhr, war da noch ein weiterer «Notfall», wie sie sagte. Vor ihrem Kloster kreuzte mit dem Radl ein älterer, magerer Mann auf. Sr. Rita erklärte mir, dass Gjon vor einigen Tagen aus dem Sanatorium entlassen wurde. Dort brauchen sie die Plätze wegen Corona und er mit seiner offenen Tuberkulose wurde mit einem Rezept heimgeschickt. Da stand er nun vor uns und hustete seine Tuberkel raus. Mundschutz, Handschuhe? Natürlich nichts dergleichen! Gjon hatte weder Geld seine Medikamente gegen die Tuberkulose zu kaufen noch eine Monete für Lebensmittel. Ich erklärte ihm, dass er unbedingt einen Mundschutz tragen müsse und zog ein paar unserer selbstgenähten aus der Tasche. Sr. Rita hat ihm dann noch Lebensmittel und etwas Früchte gekauft. Er hat offene Tuberkulose und wird bald das Blut husten, wenn er nicht Hilfe bekommt. Die Medikamente werden wir aus der Apotheke besorgen. Ich stellte mir dann vor, wie gerade die unsichtbaren Tuberkel von Gjon sich mit den Coronaviren treffen…und musste lachen. Und die gute Sr. Rita, meine Philosophenfreundin, fiel aus allen Wolken, als ich ihr erklärte, dass Tuberkelbazillen auch ansteckend sind und Gjon vermutlich an Tuberkulose sterben wird, wenn er weiter so abmagert und sein feuchter Wohnwagen ein Tuberkel-nest bleiben wird. Ob Corona für diesen Mann eine Rolle spielt, wollte dann die Schwester wissen. So häufen sich die Einzelfälle, die dem «Nebeneffekt» der Maßnahmen zum Opfer fallen. Da ist noch Katharina, die voller Krebsmetastasen ist. Keiner kommt mehr, das Krankenhaus hat verweigert, ihr das massive Bauchwasser ab zu punktieren – wegen Corona Gefahr. Keine Chance. Ich fahre zu ihr, bringe ein paar Erdbeeren, die sie noch essen kann. Sie spricht von ihrer Tochter, die in Italien festhängt. Letzte Gespräche – wir beide wissen es. Sie ist tief gläubig, ich bringe ihr die Hl. Kommunion. Und Schmerzmittel, denn die Tumorschmerzen sind unerträglich geworden. Aber sie erträgt alles. Sie wartet auf ihre Tochter. Und das Bauchwasser – nicht Corona – drückt ihr den Atem ab. Und dann ist da die nächste Krebskranke ohne Schmerzmittel. Die anderen kommen nicht mehr. So ist unser Gebiet nun um einiges erweitert. Wir denken nicht an den nächsten Tag, was wir heute tun können, tun wir, das Morgen hat seine eigene Sorge, steht schon irgendwie so geschrieben. Da sind dann auch noch unsere zwei Jungs. Der Antonio ist einfach ein Sonnyboy, aber auch er nimmt die Corona-Atmosphäre auf seine Weise wahr. So schlägt er vermehrt nach meiner Brille oder er macht einfach total Quatsch, wenn er essen soll. Abraham hatte einen Aus-raster, weil einfach an Ostern ein Ritual ausgefallen war. Er hat nur noch geheult und geheult, dann konnte er gut artikulieren, was ihn so beschäftigt: «Nicht das ausgefallene erste Eis an Ostern, nicht dass es unbedingt das Schoki-Osterei nicht gab, sondern einfach, dass das Gewohnte nicht mehr ist. Und keine Freunde, keine richtige Schule, alle nur mit Corona… und immer wieder nur Corona. Uns ist, durch unsere Kids, jeden Tag sehr klar, wie sehr es den Familien jetzt an den «Nerv» gehen kann, wenn zu allen Sorgen um Arbeits-plätze, um die Ernährung, die Angst vor der Erkrankung auch noch rebellierende, streitende und provozierende Kids und Jugendliche daheim eingesperrt sind. Das ist die Heraus-forderung, der wir uns auch als Klosterschwestern stellen und mit allen Familien hautnah teilen. Auch wir haben Nerven und es ist uns bewusst, dass wir uns hier in dieser Corona-Sondersituation ganz bewusst in der Hand haben müssen. Und wenn da ein provokanter Schmetterer kommt von einem Jungen, der ganz genau weiß, dass er zur Risikogruppe gehört, dann ist es umso nötiger, das «dahinter» auch mitzuhören. Geduld brauchen wir alle ein paar Kilo mehr. Und so können wir auch noch lachen, können miteinander die Zeit nutzen, eine Mühle spielen, in den Garten gehen und Sr. Michaela ist jeden Tag der Torwart und Abri knallt seine Bälle aus dem Rollstuhl, manchmal ein wenig aggressiver als sonst, ins Tor.

Ich möchte es nicht versäumen, Euch allen, die Ihr uns in diesen Zeiten mit Eurem Wohl-wollen, Eurer Solidarität,

Euren Spenden und Euren Gebeten begleitet, unser ganz tiefes DANKE zu sagen. Vergelt`s Gott.

Möge der Allmächtige Euch gesund bleiben lassen und uns alle in diesen Zeiten vor allem bewahren, was uns schaden mag.

Mit herzlichem Segengruß

Eure Sr. Christina mit allen hier im Klösterle

10. März 2020

Rundbrief von Schwester Christina aus Albanien zur allgemeinen, aber auch zu besonderen Situation rund um das Thema “Coronavirus (COVID-19)”

Wenn der Frühling durchbricht

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Freunde

Vielleicht bin ich zu mutig, wenn ich den Frühling erwähne. Draußen im Garten blühen viele Osterglocken, die Veilchen, Gänseblümchen, Primeln, Hyazinthen. Dieses Jahr alles mit-einander. Die letzte Woche habe ich zu den Knospen fast sagen wollen: Bleibt noch ge-schlossen, es kommt schlimmes Wetter! Sie haben meinem Rat getrotzt und sich Sturm und Regen und sogar einmal dem Hagel ausgesetzt. Der Pflaumenbaum ist weiß wie Schnee von Blüten und die Bienen haben ihn gestern in zwei Sonnenstunden besucht. Es ist, als wüsste die Natur nichts von «Corona», der (die, das??) die Welt in Atem hält. Im Hymnus des Morgengebetes lese ich jetzt beim Sonnenaufgang: «Die Erde zu heilen, schuf Gott diese Tage.» Jeden Tag bekommen wir besorgte Anfragen aus der Heimat, wie es uns denn mit dem „K-Vi“ gehe, ob wir noch gesund seien, alles haben. Für diese Für-sorge danken wir sehr. Wie es uns damit geht? Ich sage manchmal für mich «Korönchen» zum neuen Weltbeherrscher. Ob er weiblich oder männlich ist, weiß ich nicht, lieber ein ES vielleicht?? Uns geht es gut. Laut den nicht mal 100 Tests, die hier gemacht wurden, hat Corona an den Grenzen Albaniens bislang Halt gemacht. Eine Grippe mit Halsweh, hohem Fieber, Glieder-schmerzen, trockenem Husten, Lungenentzündungen haben wir hier alle bereits mehr oder weniger überstanden. Abri hatte es am schwersten erwischt. Wir hatten und haben viele Patienten, die alle diese schwere Grippe haben. Ein paar Krankenhäuser fragten uns um Schutzmasken an; zum Schluss haben wir, aus Einmalwaschlappen mit tollem Material, Schutzmasken selbst genäht. Die stehen uns nun zur Verfügung. Die Fachleute hier haben folgende Gründe bekannt gegeben, weshalb Albanien (noch) „K-Vi“-frei ist: die starke Immunität der Menschen, da sie täglich mit Unmengen von Viren und Bakterien zu tun haben und/oder das Klima. Ob Korona es lieber warm oder kühl oder nass oder trocken mag, das ist offengeblieben. Uns beschäftigt mehr die Frage, warum die ganze Welt paralysiert ist und sich von einem kleinen Virus so in Angst und Schrecken ver-setzen lässt. Vielleicht haben wir es hier leichter. Wir haben eigentlich keine Zeit für Panik und Angst. Jeder Tag hat so viel an Lebensbedrohlichem, an Überlebenskampf, dass wir gelernt haben, im Bewusstsein zu leben, dass wir immer nur in die Hände Gottes fallen – egal was passiert und ist. Diese «Erdung» und gleichzeitig Vernetzung zum Allmächtigen lässt uns soweit gelassen bleiben. Und wenn dann offiziell Corona auftaucht, dann können wir hier eh nix machen, außer eben uns im Chaos durchwurschteln, wie wir es eh gewöhnt sind. Und wie dann die Versorgungslage sein wird, das wird sich zeigen. Die Menschen sind gewöhnt, dass sie nur Käse und Milch von der Kuh haben. Desinfektionsmittel haben sie nie gehabt, selbst Seife ist seit eh und je Luxusartikel für die Bevölkerung hier aus den Bergen. Und die Leute sagen uns, dass sie vor Corona keine Angst haben; sie haben schon mehr überstanden. Und so erzähle ich nun von der neu entstandenen Frauengruppe hier im Kloster. Lule und ihre Freundin waren dafür ausschlaggebend. Die Freundin, eine junge Mutter von drei Kindern, wurde von Lule schwer verbrannt in die Ambulanz gebracht. Beim Verbrennen von Müll ist etwas explodiert und die Stichflamme hat ihr Gesicht und beide Hände verbrannt. Als ich ihr Ruhe verordnete, weinte sie lautlos. Wieder mal spielte sich dasselbe Drama ab: Mütter können hier nicht einfach so mal krank sein und ausruhen. Es wird auch vom Umfeld nicht toleriert. Es stellte sich – wie schon so oft – heraus, dass diese Mutter völlig überfordert ist. Wenigstens schlägt sie ihr Mann nicht, aber der ist jeden Tag in der Stadt, um sich am Straßenrand als Tagelöhner zu verdingen. Manchmal hat er Glück, öfters kommt er völlig frustriert nach Hause. Hausarbeit jedoch lehnt er als Ehrbeleidigung ab. Wir kommen ins Gespräch. Lule kennen wir schon 14 Jahre. Damals wurde ihr Bruder wegen Blutrache er-schossen. Er war verheiratet und hatte drei kleine Mädchen, die Kleinste war 2 Monate alt. Die junge Mutter war damals gerade mal 21 Jahre alt und völlig mit der Situation über-fordert. Lule hat sich seitdem der Erziehung der drei Mädchen gewidmet; sie ist Lehrerin. Nun, wir reden und reden; die Verletzte hört auf zu zittern und lässt mal alles raus. Und am Ende der medizinischen Versorgung steht dann der erste Frauentreff im Kloster. Lule möchte alle ihre Freundinnen aus dem Wohngebiet drüben mitbringen. Letzte Woche war es dann soweit. Ich zweifelte glatt, dass sie kommen. Aber sie kamen. Erstmal vier Frauen zum Gucken, wie das so wird. Wir hatten den Tisch im Saal schön gedeckt und Kaffee und Kekse vorbereitet. Die Frauen sollten mal eine Stunde frei atmen können. Und das taten sie dann auch. Und sie fingen an, ihre Geschichten zu erzählen. Diese Geschichten wären es wert, in Bücher geschrieben zu sein. Es sind Geschichten von Frauen, die unglaubliches durchgemacht haben. Sie haben durch Blutrache, Verlust der Kinder, Gewalt, Hunger, Rechtlosigkeit und viel, viel Arbeit eine ungewöhnliche seelische Stärke entwickelt, keineswegs Härte. Was hat sie gehalten? Der Glaube, wie sie sagen, ein gewisser Humor der albanischen Berge, wo sie herkommen, sich nicht beugen vor Selbstmitleid. Ich erlebe in ihnen volle seelische Gesundheit, aber auch Ehrlichkeit, ehrliche Klage, ärgerliches Schimpfen, ehrliches Lachen, ein beherztes sich Einsetzen, und den gewissen Trotz der albanischen Frau: sie trotzen allem, weil sie letztlich für das Leben verantwortlich sind. Und sie lassen raus, dass sie in dunkelsten Stunden den Rosenkranz gebetet haben. Eine Bibel haben sie nie gelesen, über ihre Gottesbeziehung reflektieren sie nicht unbedingt, aber sie glauben, dass Gott ihr Leben in der Hand hält und ihnen das Leben aufgegeben hat. Das reicht ihnen. Und so gehen sie auch mit der Bedrohung durch Corona um. Dieses, die Welt beherrschende Virus, be-droht sie gar nicht. Sie staunen, als ich sie danach frage. Und sie lachen, als ich wissen möchte, ob sie davor denn keine Angst haben. «Nein, Schwester. Wir haben schon viel Schlimmes überstanden, zwei von uns hatten Cholera. Wir werden den auch schaffen und wenn nicht, dann ist es halt Zeit zum Sterben!» Ja, das sagen sie so. Ich denke, wo der Tod täglich wirklich so nah ist wie hier, da kann man so mit dem Leben umgehen. Und diese Frauen sind glücklich in diesen Stunden hier. Und Corona beherrscht diese zwei Stunden keineswegs. Ich lerne wieder mal intensiv von unseren Frauen und habe Hochachtung. Nach zwei Stunden gehen sie und Lule möchte in zwei Wochen weitere Frauen mitbringen. Mri sagt schmunzelnd: «Weißt Du, wir wollten erst mal gucken, wie das so ist hier. Jetzt kommen wir aber alle.» Ein kleiner Frühling im Lebenssommer! Mehr als Corona beschäftigt uns täglich die Situation der Alten und Pflegebedürftigen in den Häusern. Seit Wochen und Monaten kommen Angehörige von bettlägerigen Patienten mit Fotos von diesen. Wir sehen verfaulende Menschen. Sie sind unversorgt mit schweren Dekubiti. Wir können das nicht mehr beschreiben. Die Patienten sind wund gelegen bis auf die Knochen: Gesäß, Schultern, Fersen, Beckenknochen, alles, alles. Teilweise kommen sie so aus den Krankenhäusern zurück. Die Familien sind nicht vorbereitet, haben keine Pflege-mittel, keine Ahnung usw. Eine Frau und Mutter von zwei noch kleinen Söhnen haben drei alte Familienangehörige zu versorgen. Nun kam sie zu uns und bat um Hilfe. Was ich dann draußen sah, ist eigentlich unbeschreiblich: im ersten Stock liegt ihre Mutter. Sie hatte einen Beckenbruch, war einige Tage im Krankenhaus und kam völlig aufgelegen zurück. Das Bett ist eine Holzpritsche, die alte Frau hatte keine Schmerzmittel und die Wunden waren nicht verbunden. Sie stanken fürchterlich und die pflegende Familienmutter wusste nicht mehr weiter. Sie hatte ein paar Röcke zerrissen und rumgewickelt. In einem anderen Zimmer im Erdgeschoss liegen die Schwiegereltern. Die Schwiegermutter ist dement und macht Dinge, die gefährlich sind. Der Schwiegervater liegt auch auf einer Holzpritsche und ist seit fünf Jahren gelähmt. Ambulante Versorgung gibt es nicht. Wir haben nun wenigstens das Notwendigste eingeleitet und die Frau ist etwas entlastet. Finanziell ist diese Familie aber schon lange am Ende. Dies ist kein Einzelfall; jeden Tag kommen verzweifelte Bitten um Hausbesuche zu uns. Derweil sind wir in Planung für einen Kurs für pflegende Angehörige. Die schwere Grippewelle hat uns da aber eingebremst. Wir sind besorgt über diesen äußersten Pflegenotstand. Und Krankenschwestern, junge Arbeiter sowie Fachkräfte werden massiv vom Westen abgeworben. Das Land hier blutet aus, die Alten bleiben allein zurück. Ein soziales Netz dafür gibt es bislang nicht. Wir suchen nun nach gangbaren Möglichkeiten, denn wir können unsere Augen vor diesem bereits begonnenen Notstand nicht verschließen. Wir brauchen flächendeckende ambulante Versorgungsstrukturen. So fangen wir mal in der Frauenrunde damit an. Ich denke, diese Frauen sind fähig, sich um andere zu kümmern. Ganz einfach, ganz basal, kostet nix oder wenig. Es braucht nicht so viel. Dies ist jedenfalls mal unser nächster Schritt. So gehen wir durch die Fastenzeit und trauen der Führung des Allmächtigen und richten unseren Blick weniger auf «Korona», sondern in diesen Tagen auf den Herrn mit der Dornenkrone, der uns und die Schöpfung durch sein Leiden erlöst hat. Und wir hoffen und wünschen Euch allen den freien Blick durch diese Krisen- und Fastentage auf Ostern hin. Und wir danken für alle Gebete und alle Unterstützung und erbitten Euch den Segen Gottes.

Eure Sr. Christina mit Sr. Michaela